516. Nachdenkliches für Manager – Status Quo 12-90
Dienstag, 20. Oktober 2015 | Autor: intern
Lieber Blog Besucher,
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Status Quo
„Hier sind die letzten Unterlagen für die Schlussbesprechung“, sagte meine Sekretärin und gab mir die Blätter in die Hand. Ich prägte mir noch einmal die wichtigsten Zahlen ein, legte alles in meine Konferenzmappe, und gerade als ich sie zuklappte, steckte mein Kollege Kurt Stoll seinen Kopf durch den Türspalt und fragte: „Hast Du noch einen Moment Zeit, bevor wir rübergehen?“
Ich rückte ihm einen Stuhl zurecht, er setzte sich und brannte eine Zigarette an: „Ich brauche Deine Schützenhilfe, wenn wir nachher die Planzahlen für nächstes Jahr endgültig verabschieden. Krug“, das war unser Finanzchef, „ist der Meinung, für unser Entwicklungsprojekt >Elektronische Qualitätsüberwachung> reicht die gleiche Summe wie in diesem Jahr. Aber ich brauche mindestens 50 Prozent mehr.
Ich gehe heute damit auf den Chef los, und Krug wird sich quer legen Kann ich mit Dir rechnen?“
Ich nickte, hakte ihn unter und zog ihn auf den Flur.
Als wir wieder aus dem Konferenzraum herauskamen, war es draußen schon finster geworden, es hatte angefangen zu schneien, und im Licht der Lampen am
Eingang unserer Empfangshalle sah man, wie sich die Büsche und Bäume unter einem heftigen, kalten Wind beugten.
„Danke“, sagte Stoll zu mir, „Du warst große Klasse, als Du meine Argumente aufgegriffen und verstärkt hast. Das war schon bundesligareif, wie wir uns den Ball zugespielt und die Tore geschossen haben. Krug ist zwar sauer, aber ich habe das Geld.“
Wir blieben stehen und sahen hinaus in die winterliche Dunkelheit. „Übrigens“, fügte Stoll an, „ab Montag gehe ich für drei Wochen in Skiurlaub, wir sehen uns also vor Weihnachten nicht mehr. Ich wünsche Dir schon heute von Herzen frohe Feiertage und für das Neue Jahr: Bleib, wie Du bist!“
Ich ging zurück in mein Büro, weil ich noch sehen wollte, was meine Sekretärin in der Zwischenzeit alles für mich notiert hatte.
Die letzten Worte von Kurt Stoll gingen mir nicht aus dem Kopf: „Bleib, wie Du bist.“
Ich erinnerte mich an meinen Großvater, für den diese Worte grundbestimmendes Lebensprinzip waren. Von den ersten Tagen meiner Kinderzeit kannte ich ihn über 25 Jahre lang, und immer war er sich, wie man so sagt, treu geblieben als ein aufrechter, kluger, kultivierter Mann mit klaren Grundsätzen. Da gab es kein Abweichen, keine Überraschungen. In gewisser Weise war er zu jeder Zeit berechenbar und wohl deshalb langweilte ich mich immer in seiner Gegenwart. Ich versuchte sein Herz zu entdecken und stieß auf Haltung.
Doch einmal geschah etwas. Es war zu Weihnachten. Großvater hatte sich, wie er das jedes Jahr tat, den ganzen Vormittag des Heiligabends in der guten Stube eingeschlossen, um den Tannenbaum zu schmücken. Niemals überließ er das einem anderen. Und als er uns dann durch GIöckchenläuten zur Bescherung Einlass gewährte, war es erneut ein Erlebnis, sein Kunstwerk zu sehen. Er hatte eine Begabung für Weihnachtsbäume. Wir beglückwünschten ihn herzlich für die meisterliche Dekoration, und als wir mitten bei der Bescherung waren, erstarrte Großvater förmlich, blickte angestrengt in die Zweige, die bunten Kugeln und das Engelshaar und erklärte, da gäbe es eine das Gesamtbild förmlich entstellende Asymmetrie, mehr noch, schon fast ein Loch in der Zuordnung des Christbaumschmuckes, und schon eilte er mit der Stehleiter herbei, drängte uns Platz zu machen, klappte sie auseinander und erklomm sie, den Blick fest auf das Ärgernis gerichtet. Er beugte sich weit hinüber, nahm eine der weissbereiften Kugeln von ihrem Ast, verlor das Gleichgewicht, Tannenbaum und Großvater umarmten sich, sanken förmlich ineinander, und unter Klirren, Knacken und Fluchen gingen sie vereint zu Boden, mitten in dem stattlichen Paradiesgarten, der sich unter Großvaters Gewicht zurückverwandelte in einen vorschöpfungsähnlichen Zustand. Und als Opa da mitten in den Trümmern seines gefühlvollen Festes lag, liebte ich ihn. Seine schwächste Stunde war für mich zu seiner stärksten geworden. Er war eine gefallene Respektsperson, ein Mensch.
Nein, ich wollte nicht so bleiben, wie ich war, so gut das Kurt Stoll auch gemeint hatte. Sagten wir nicht immer wieder zu unseren Mitarbeitern, dass Stillstand Rückgang sei? Betonten wir nicht ständig, dass Zukunft ohne Wachstum nicht möglich ist, dass Leben nur dort geschieht, wo Veränderung stattfindet?
Da stellte ein Christ in einem Vortrag, den er neulich hielt, die verblüffende Frage: „Was muss ein Mensch tun, um garantiert das Ziel seines Lebens und damit die Ewigkeit zu verfehlen?“
Und seine Antwort? „Bleib wie Du bist und rühr Dich nicht!“
Hatte darum Johannes der Täufer seine Zuhörer so dringlich und mit aller Leidenschaft ermahnt, Buße zu tun?
Nachzusinnen über ihre Art zu leben und zu denken mit der Bereitschaft für Konsequenzen?
Heraus aus ihrer selbstbetrügerischen Sicherheit und der Erstarrung in Gewohnheiten, die wir und vielleicht sogar andere an uns gut finden, die aber in den Augen Gottes einen ganz anderen Stellenwert haben?
Wollte Johannes Menschen bereit machen zu einer lebendigen Begegnung mit Jesus Christus, als er ihnen zurief: „Bereitet dem Herrn einen Weg,“
Mitten hinein in unser Leben? Nicht Status quo, sondern Aufbruch, Dynamik?
„O Gott“, sagte ich und sah aus dem Fenster hinaus in die Winternacht, „lass mich nicht so bleiben, wie ich bin. Ich will leben, wachsen. Nimm mir alle meine Standpunkte weg, auch wenn ich Angst habe, damit Sicherheiten einzubüssen. Schick mich durch Lernprozesse, durch Krisen, damit ich reife und klug werde für das, was Du Deine Ewigkeit nennst. Gib mir, gib uns ein wirklich und wahrhaftig neues Jahr.“
Karlheinz Binder
Thema: Nachgedacht | Beitrag kommentieren