507. Nachdenkliches für Manager – Die falsche Tür 2-90
Dienstag, 20. Oktober 2015 | Autor: intern
Lieber Blog Besucher,
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Die falsche Tür
Für übermorgen Mittag hatten sie sich bei uns angemeldet, Anton Wittersdorf und seine engsten Mitarbeiter. Sie waren mit ihrem respektablen Unternehmen wichtige Kunden für uns, und wir würden ihnen einen angemessenen Empfang bereiten. Nicht übertrieben, Wittersdorf liebte das nicht, aber auch nicht eine Nummer zu klein, das stand unserem Haus nicht an. Eine gute Rede wollte ich ihnen halten mit einem herzlichen Willkommen und Dank für die Art und Weise, wie sich unsere Geschäftsbeziehungen entwickelt und gestaltet hatten.
Während ich den langen Büroflur zur Werbeabteilung hinunterging, um dort noch einige letzte Einzelheiten zu klären, dachte ich konzentriert darüber nach, wie ich das alles formulieren könnte, wo gedankliche und rhetorische Schwerpunkte zu setzen seien und wann ich wohl am besten redete, zum Aperitif oder zwischen zwei Gängen des gemeinsamen Essens? Und noch ganz versunken in meine Überlegungen irrte ich mich in der richtigen Tür und stand nicht im Büro des Werbeleiters, sondern ganz plötzlich in dem von Jürgen Reichmann.
Wir sahen uns beide im ersten Moment verblüfft an, aber ich fing mich einen Moment schneller als er, ging um seinen Schreibtisch herum, nahm seine Hand und sagte: „Hallo, ich wollte einfach mal sehen, wie es Ihnen geht, Jürgen, wir haben uns so lange nicht mehr gesehen“, und ganz tief in mir fühlte ich mich traurig, weil ich ihn belog.
Er setzte sich mühsam und mit unsicheren Bewegungen in seinem Rollstuhl zurecht, deutete mit dem Kopf auf einen Besuchersessel und sagte mit Anstrengung: „Bitte setzen Sie sich.“
Eine ganze Weile sahen wir uns wortlos an, und ich erinnerte mich an die Zeit vor einigen Jahren. So manchen Kunden hatten wir zusammen für unsere Firma gewonnen. In langen, zähen Verhandlungen Aufträge hereingeholt. Da war die lange Schnee-Nacht mitten im Winter auf der Geislinger Steige. Die Autobahn spiegelglatt, Lastzüge hatten sich am Berg festgefahren, nichts lief mehr, Stunde um Stunde. Jürgen Reichmann und ich redeten zuerst über das Geschäft, unsere PIäne, unsere Erfolge, und dann wurde es persönlicher, wir kamen auf die Familie zu sprechen, die Kinder, was sie einmal werden wollten, wenn sie die Ausbildung hinter sich hatten, und es entstand so etwas wie Kameradschaft zwischen uns.
Ein paar Monate später wurde er krank. Seine Hände begannen zu zittern, seine Füße versagten, die Muskulatur funktionierte nicht mehr und die Ärzte eröffneten ihm: Multiple Sklerose. Er fehlte immer öfter und wir verloren allmählich den direkten Kontakt zueinander, die Kollegialität Iöste sich auf. Ein- oder zweimal versuchte ich, ihn zu besuchen, aber da war er gerade zu einer speziellen Kur weg, und ich ließ es dabei, mit einem schlechten Gewissen. Und nun, ganz plötzlich, ganz unerwartet, dieses Zusammentreffen. Alles an ihm hatte sich verändert, nur sein Blick war noch wie früher, aufmerksam, wach, offen.
Ich überlegte: Was ging in einem solchen Mann vor, der immer voller Tatkraft und Dynamik gewesen war, robust und fröhlich. Jetzt saß er im Rollstuhl, nicht mehr fähig, seine Bewegungen zu koordinieren und zu kontrollieren, ein Pflegefall. Zerstört durch eine tückische Krankheit, die einen ohne sichtbaren Grund überfällt.
Musste er nicht mit seinem Leben hadern, der Verzweiflung nahe sein, ganz dicht daran, wo es finster wird in unserer Seele?
„Ich freue mich“, sagte Jürgen Reichmann ganz langsam, und er sah zum Fenster hinüber „ich freue mich an jedem so herrlichen Tag wie heute und bin Gott dankbar, dass ich leben kann. Ich habe durch diese Krankheit zurückgefunden zu meinem Glauben, und ich habe in mir einen ganz tiefen Frieden. Ich weiß mich und meine Familie geborgen, was immer auch geschieht. Ich muss nicht traurig sein wie die, die keine Hoffnung haben. Außer Denken kann ich nicht mehr viel arbeiten, aber ich bete viel, auch für Sie.“
Ich saß wortlos und tief betroffen auf meinem Stuhl und merkte, wie mir die Augen feucht wurden. Muss manch einer von uns erst so schwach werden, damit Gott in ihm mächtig wird? Da war nicht ein Wort der Klage oder des Vorwurfs, dass wir Kollegen ihn alle im Stich gelassen hatten, weil das Tagesgeschäft uns wichtiger war, weil wir ihm aus Ratlosigkeit hilflos auswichen.
Ich stand schweigend auf, und als wir uns die Hand gaben, wussten wir es beide, jetzt waren wir Freunde.
Karlheinz Binder