484. Nachdenkliches für Manager – Festtagsübung 12-98
Montag, 19. Oktober 2015 | Autor: intern
Lieber Blog Besucher,
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Festtagsübung
Gerade hatten wir den letzten Vers des schönen, innigen Liedes zu Ende gesungen, da knarrte die große, schwere Kirchentür mitten hinein in die Feierlichkeit des Weihnachtsgottesdienstes, laut und in einem schwer erträglichen Frequenzbereich.
Ich wandte, wie viele um mich her, den Kopf um zu sehen, wer da schon wieder einmal zu spät kam. Außerdem, dachte ich, könnte der Küster endlich einmal die Ölkanne nehmen und dieses akustische Übel beseitigen.
Nicht gerade leise, sondern mit nahezu unverschämten Schritten kam der verzögerte, mir fremde Gast den Mittelgang herunter. Seinen ehemals grünen Filzhut, geschmückt mit einem Tannenzweig, hatte er auf dem Kopf behalten, aus dem schäbigen, abgewetzten Mantel ragten zwei Hände, von denen die eine den derben Knotenstock und die andere eine Flasche Bier hielt. Zweifellos ein Hamperle, ein Penner, ein Clochard.
Links vor mir in der Reihe saß das Kirchenvorstandsmitglied Peter Waldner und ich sah an seinem Nacken wie sich die Muskeln spannten, bereit sofort einzugreifen, wenn sich dieser fremde Mensch Unbotmäßigkeiten erlauben sollte. Aber der ging, ohne von uns und unseren Gesichtern große Notiz zu nehmen, vor bis zur ersten Stuhlreihe in die sich sonst keiner traute, hangelte sich mühsam aus seinem Rucksack, lehnte den Stock an den Nebenplatz, nahm einen langen Zug aus der Flasche und plumpste mit einem vernehmlichen Seufzer auf das Sitzmöbel.
Zwischen uns festlich gekleideten Leuten wirkte er wie ein Fremdkörper. Wie einer, der eigentlich nicht hierher gehörte. Nicht zu uns. Allerdings, fiel mir ein, da hatten wir gerade vor einigen Tagen, am vierten Advent, sehr innig und voller Überzeugung gesungen:
„Ein Herz, das Demut liebet, bei Gott am höchsten steht,
ein Herz, das Hochmut übet, mit Angst zugrunde geht,
ein Herz, das richtig ist und folget Gottes Leiten,
das kann sich recht bereiten, zu dem kommt Jesus Christ,“
der dritten Strophe aus „Mit Ernst o Menschenkinder“.
Wurde das so etwas wie die Probe aufs Exempel?
Unser später Besucher blieb ruhig. Nur in regelmäßigen Abständen griff er zu seiner Bierflasche, bis sie leer war. Man vernahm es am hohlen Geräusch, als er sie auf dem Boden abstellte.
An der sich entspannenden Haltung von Peter Waldner sah ich, daß seine Physis inzwischen die Alarmbereitschaft beendet hatte, nur ein spürbares Mißtrauen blieb. Bei ihm, mir und wohl auch bei vielen anderen.
Alles verlief friedlich, bis auf einmal, mitten in den wohlformulierten Weihnachtsworten des Pfarrers, dieser Mensch aufstand und nach vorn ging, in der Hand seine verbeulte Kopfbedeckung. Er stieg mühsam und mit steifen Knien die zwei Stufen hinauf zum Altar, zog den kleinen Tannenzweig aus dem vom Wetter verfärbten, scheckigen Hutband und legte ihn vor das große, sich im Licht der Kerzen spiegelnde Messingkreuz. Mit gebeugtem Haupt blieb er eine Weile stehen, drehte sich dann um, sah uns alle an, und sein Blick ging mir mitten ins Gewissen. Er drang durch meine feierliche Haltung, durch meine Vorurteile, meine weihnachtliche Stimmung und mir wurde klar, was jetzt in diesem Augenblick geschah, war eine Art nonverbale Predigt des Eigentlichen: An der Krippe von Jesus Christus, des Allmächtigen Sohn, geht es nicht um feierliche Gefühle, nicht um fromme Gedanken, an dieser Krippe geht es um das Elend und die Schuld von Menschen, um unsere erbärmliche Erlösungsbedürftigkeit und um die von Gott angebotene
Vergebungsbereitschaft, die begriffen und ergriffen sein will.
Hatte Gott diesen einfachen, womöglich im Leben gescheiterten Menschen dazu benutzt, uns damit zu konfrontieren, daß jenes gewaltige Ereignis, allen Menschen wiederfahren, sich bei uns reduziert hat auf weihnachtliches Verhalten? Pervertiert zu einer Art Festtagsübung mit dem Widerspruch zwischen unseren vollen Gabentischen und dem dürftigen Innenleben, unserem Zufriedensein und der armseligen Dürftigkeit dieses Mannes dort vorn am Altar?
Und während ich noch diesen Gedanken nachhing, war der Zerlumpte die zwei Stufen wieder heruntergestiegen. Er hatte sich auf die untere hingekniet, seinen Hut neben sich gelegt, seine Hände gefaltet und an den zuckenden Bewegungen seines gebeugten Rückens sah ich, daß er auf erschütternde Weise weinte, so sehr, daß ich selber mit den Tränen kämpfte. Aber mein verstohlener Blick nach rechts und links, ob es auch keiner bemerkte, zeigte mir: Allen meinen Nachbarn ging es genau so.
Wahrscheinlich waren wir diesem Armseligen in allem überlegen. In unserer gesellschaftlichen Geltung, in unserem Besitzstand, in unserer Tüchtigkeit und mit unseren Erfolgen. Nur in einem nicht. Dieser Mensch hatte etwas mitgebracht, herein in die Kirche, den Mittelgang herunter bis zum Altar und dort unter Tränen dargeboten: Sein Herz.
War er in diesem Augenblick dem Sohn Gottes, geboren in einem Stall, angebetet von den Hirten, vielleicht viel näher als jeder von uns? Weil Gott nicht die schön verpackten Geschenke ansieht, nicht unsere festlichen Gesichter, nicht unsere feierlichen Gefühle, sondern nur eins: Das Herz.
Und von ebendemselben wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Christfest!
Karlheinz Binder
Thema: Nachgedacht | Beitrag kommentieren