die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Ein Mordskerl
Eines Morgens passiert es. Er wird grau im Gesicht, klagt über Schmerzen in der Brust, und dann fällt er plötzlich um. Herzinfarkt.
Notarzt, Krankenhaus, Intensivstation. Banges Warten, Beten, Tränen, Panik.
Und das Erhoffte geschieht, er kommt durch.
Man sagt ihm, dass es fast ein Wunder war, denn noch unterwegs im Ambulanzwagen war das Herz stehen geblieben, ein paar Minuten lang. Nur die Erfahrenheit des Notarztes hatte ihn gerettet.
Und nun sitzt er in seinem Bett. Glücklich, nachdenklich, bereit, in seinem Leben einiges zu ändern, wenn er wieder draußen ist.
Mehr Zeit für die Familie, besonders für die Frau.
Mehr Nachdenken über den Sinn des Lebens.
Ob das wirklich alles sein kann, materiellen Erfolg zu haben, Ansehen und Einfluss. Gab es da nicht irgendwo das Wort, wir sollten uns Schätze schaffen im Himmel, wo sie weder Rost noch Motten noch Inflation fressen? Krisenfest.
Überhaupt: Ob man nicht mal wieder in der Bibel lesen sollte?
Zumindest wird er sich der Frage nach Gott stellen, ganz bestimmt.
Ich sitze ihm gegenüber an seinem Bett und schenke ihm ein Buch. Eines, das genau aufs Zentrum zielt. Er will es lesen, wenn er sich wieder stark genug fühlt. Danke.
Wochen später ist er wieder in der Firma. Erholt, braungebrannt, grossartig gelaunt, so eine richtige imponierende, positive, dynamische Erscheinung. Und dann erzählt er. Zuerst vom großartigen Erholungsurlaub und dann von den dramatischen Stunden bei seinem Infarkt.
Und dann sagt er: „Um ein Haar wäre es schief gegangen, es handelte sich wirklich um Minuten, ach was sage ich, Sekunden. Also Leute, wenn ich nicht diese Bärennatur gehabt hätte, und meinen Mut, und meinen Optimismus, wenn ich nicht so ein Mordskerl wäre, ich säße heute nicht mehr vor Euch. Aber so einer wie ich, der kommt durch,den bringt nichts um!
Zu meinem Buch, das aufs Zentrum zielt, ist er natürlich noch nicht gekommen.
Im nächsten Urlaub, oder mal am Wochenende, wenn er Zeit hat, dann bestimmt.
Und vor der Tür sagt mir ein Kollege mit äußerster Hochachtung in der Stimme: „Er ist schon ein Teufelskerl!“, und fast klingt es, als hätte er recht, oder?
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Festtagsübung
Gerade hatten wir den letzten Vers des schönen, innigen Liedes zu Ende gesungen, da knarrte die große, schwere Kirchentür mitten hinein in die Feierlichkeit des Weihnachtsgottesdienstes, laut und in einem schwer erträglichen Frequenzbereich.
Ich wandte, wie viele um mich her, den Kopf um zu sehen, wer da schon wieder einmal zu spät kam. Außerdem, dachte ich, könnte der Küster endlich einmal die Ölkanne nehmen und dieses akustische Übel beseitigen.
Nicht gerade leise, sondern mit nahezu unverschämten Schritten kam der verzögerte, mir fremde Gast den Mittelgang herunter. Seinen ehemals grünen Filzhut, geschmückt mit einem Tannenzweig, hatte er auf dem Kopf behalten, aus dem schäbigen, abgewetzten Mantel ragten zwei Hände, von denen die eine den derben Knotenstock und die andere eine Flasche Bier hielt. Zweifellos ein Hamperle, ein Penner, ein Clochard.
Links vor mir in der Reihe saß das Kirchenvorstandsmitglied Peter Waldner und ich sah an seinem Nacken wie sich die Muskeln spannten, bereit sofort einzugreifen, wenn sich dieser fremde Mensch Unbotmäßigkeiten erlauben sollte. Aber der ging, ohne von uns und unseren Gesichtern große Notiz zu nehmen, vor bis zur ersten Stuhlreihe in die sich sonst keiner traute, hangelte sich mühsam aus seinem Rucksack, lehnte den Stock an den Nebenplatz, nahm einen langen Zug aus der Flasche und plumpste mit einem vernehmlichen Seufzer auf das Sitzmöbel.
Zwischen uns festlich gekleideten Leuten wirkte er wie ein Fremdkörper. Wie einer, der eigentlich nicht hierher gehörte. Nicht zu uns. Allerdings, fiel mir ein, da hatten wir gerade vor einigen Tagen, am vierten Advent, sehr innig und voller Überzeugung gesungen:
„Ein Herz, das Demut liebet, bei Gott am höchsten steht,
ein Herz, das Hochmut übet, mit Angst zugrunde geht,
ein Herz, das richtig ist und folget Gottes Leiten,
das kann sich recht bereiten, zu dem kommt Jesus Christ,“
der dritten Strophe aus „Mit Ernst o Menschenkinder“.
Wurde das so etwas wie die Probe aufs Exempel?
Unser später Besucher blieb ruhig. Nur in regelmäßigen Abständen griff er zu seiner Bierflasche, bis sie leer war. Man vernahm es am hohlen Geräusch, als er sie auf dem Boden abstellte.
An der sich entspannenden Haltung von Peter Waldner sah ich, daß seine Physis inzwischen die Alarmbereitschaft beendet hatte, nur ein spürbares Mißtrauen blieb. Bei ihm, mir und wohl auch bei vielen anderen.
Alles verlief friedlich, bis auf einmal, mitten in den wohlformulierten Weihnachtsworten des Pfarrers, dieser Mensch aufstand und nach vorn ging, in der Hand seine verbeulte Kopfbedeckung. Er stieg mühsam und mit steifen Knien die zwei Stufen hinauf zum Altar, zog den kleinen Tannenzweig aus dem vom Wetter verfärbten, scheckigen Hutband und legte ihn vor das große, sich im Licht der Kerzen spiegelnde Messingkreuz. Mit gebeugtem Haupt blieb er eine Weile stehen, drehte sich dann um, sah uns alle an, und sein Blick ging mir mitten ins Gewissen. Er drang durch meine feierliche Haltung, durch meine Vorurteile, meine weihnachtliche Stimmung und mir wurde klar, was jetzt in diesem Augenblick geschah, war eine Art nonverbale Predigt des Eigentlichen: An der Krippe von Jesus Christus, des Allmächtigen Sohn, geht es nicht um feierliche Gefühle, nicht um fromme Gedanken, an dieser Krippe geht es um das Elend und die Schuld von Menschen, um unsere erbärmliche Erlösungsbedürftigkeit und um die von Gott angebotene
Vergebungsbereitschaft, die begriffen und ergriffen sein will.
Hatte Gott diesen einfachen, womöglich im Leben gescheiterten Menschen dazu benutzt, uns damit zu konfrontieren, daß jenes gewaltige Ereignis, allen Menschen wiederfahren, sich bei uns reduziert hat auf weihnachtliches Verhalten? Pervertiert zu einer Art Festtagsübung mit dem Widerspruch zwischen unseren vollen Gabentischen und dem dürftigen Innenleben, unserem Zufriedensein und der armseligen Dürftigkeit dieses Mannes dort vorn am Altar?
Und während ich noch diesen Gedanken nachhing, war der Zerlumpte die zwei Stufen wieder heruntergestiegen. Er hatte sich auf die untere hingekniet, seinen Hut neben sich gelegt, seine Hände gefaltet und an den zuckenden Bewegungen seines gebeugten Rückens sah ich, daß er auf erschütternde Weise weinte, so sehr, daß ich selber mit den Tränen kämpfte. Aber mein verstohlener Blick nach rechts und links, ob es auch keiner bemerkte, zeigte mir: Allen meinen Nachbarn ging es genau so.
Wahrscheinlich waren wir diesem Armseligen in allem überlegen. In unserer gesellschaftlichen Geltung, in unserem Besitzstand, in unserer Tüchtigkeit und mit unseren Erfolgen. Nur in einem nicht. Dieser Mensch hatte etwas mitgebracht, herein in die Kirche, den Mittelgang herunter bis zum Altar und dort unter Tränen dargeboten: Sein Herz.
War er in diesem Augenblick dem Sohn Gottes, geboren in einem Stall, angebetet von den Hirten, vielleicht viel näher als jeder von uns? Weil Gott nicht die schön verpackten Geschenke ansieht, nicht unsere festlichen Gesichter, nicht unsere feierlichen Gefühle, sondern nur eins: Das Herz.
Und von ebendemselben wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Christfest!
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Die Jugend vergessen?
„Bitte Nichtraucher und möglichst einen Gangplatz“ sagte ich zu der smart uniformierten Dame hinter dem Eincheck-Schalter der Fluglinie. Sie warf einen kurzen Blick auf ihren Bildschirm, sagte dann: „Das läßt sich machen, Sir“, und mit sägendem Geräusch lieferte der Drucker meine Bordkarte.
Als ich in der Maschine meinen Koffer verstaut hatte, nickte mir mein Nachbar auf dem Mittelplatz freundlich zu. Ich grüßte zurück und ordnete ihn in meinem Hinterkopf blitzschnell ein: Circa 30 Jahre, Manager, aufgeschlossen, dynamisch, zielbewußt mit verbindlichem Ehrgeiz. Ein Typ, den ich mochte.
Ganz kurz bevor die Gangway weggefahren und die Tür geschlossen wurde, kam der dritte aus unserer Sitzreihe, Inhaber des Fensterplatzes. Mittelgroß, schlank, dunkelblauer Anzug, Maßarbeit, Schuhe vom Feinsten. Ich stand auf, ließ ihn an mir vorbei, sein Blick und das knappe Wort Danke streiften mich kurz, meinem Nachbarn gab er die Hand, sah ihm dabei aber nicht in die Augen, und dann setzte er sich.
Als wir die Reiseflughöhe erreicht hatten, legte er seinen teuren Aktenkoffer auf die Knie, öffnete ihn, vertiefte sich in Unterlagen, wandte dann seinen Kopf zu meinem jungen Nebenmann und sagte: „Bitte, geben Sie mir den Vertragsentwurf für morgen früh.“
„Den habe nicht ich, sondern Dr. Hahn, unser Justitiar. Wie er mir sagte, hatten Sie beide verabredet, daß er den Text noch einmal überarbeitet und ihn heute Abend ins Hotel mitbringt.“ Der Ton des anderen, älteren, wurde hörbar kühler: „Aber Sie haben sicherlich eine Kopie der älteren Version dabei?!“
„Nein“, war die Antwort.
„Dann hätten Sie sich, verdammtnochmal, gefälligst eine besorgen können! Muß man sich denn um alles selber kümmern, nur weil andere offensichtlich unfähig sind?“ Und seine Stimme klang wie das Eis in meinem Glas mit Tonic-Water.
Ich sah ihn sehr erstaunt über einen solchen Ausbruch von der Seite an, da wandte er sich mir zu und sein Blick signalisierte: Wenn du nicht sofort wegsiehst, passiert dir das gleiche.
Bis zur Landung herrschte Schweigen. Die beiden gingen beim Aussteigen getrennte Wege und ganz zufällig standen der junge Manager und ich nebeneinander in der Schlange vor der Paßkontrolle.
„War das Ihr Boß?“ fragte ich ihn. Er nickte: „Leider ist der immer so. Er hält große Reden, wie wichtig und zukunftsnotwendig die Menschen im Betrieb sind, allerdings gibt es zwischen Wort und Tat, zwischen Wollen und Tun, zwischen Erkenntnis und Umsetzung ein großes, problematisches Defizit. Aber“, ergänzte er, „ich werde ihn nicht mehr lange ertragen müssen, ich bin auf dem Absprung.“
Steht nicht, ging es mir durch den Kopf, steht nicht in den Verfassungen aller freiheitlicher Staaten dieser Welt der Satz: Die Würde des Menschen ist unantastbar?
Diskutieren wir nicht in unseren Unternehmen seit über zehn Jahren neue, hehre Grundsätze der Mitarbeiterführung und einer Company-Culture? Und da hält so ein Mensch, mein Kollege Weber würde sogar drastisch sagen, so ein Giftzwerg, Reden über den Stellenwert der Mitarbeiter und sein Verhalten ist das genaue Gegenteil. Begreifen wir eigentlich noch immer nicht, daß wir auf diese Weise die Aufrechten verlieren und die mit dem krummen Rückgrat und dem jederzeit präsenten „Ja, Chef!“ behalten?
Haben wir vergessen, daß wir selber einmal jung und auf Geduld und Verständnis der Erfahrenen angewiesen waren?
Da sagen uns die Journalisten der Wirtschaftsblätter, die Soziologen, die Psychologen, die Management-Gurus und wer weiß sonst noch, immer und immer wieder: Wichtigste Aufgabe der Unternehmer und Führungskräfte ist es, die Zukunft des Unternehmens zu gestalten und zu sichern. Wir nicken mit dem Kopf und wissen: Nichts anderes als allein Ideen, Dynamik, Mut, Entscheidungskraft, Phantasie und Charakter entscheiden darüber, wo wir in den nächsten drei, fünf und zehn Jahren stehen. Wir wissen, daß alle diese Faktoren nicht materiell sind, sondern latent oder sogar schon real vorhanden in den Köpfen und Herzen von Menschen und was tun wir dafür?
Können wir noch immer nicht begreifen: Genau diese Jungen, die Ungestümen, die Querdenker, die Infragesteller, die mit dem Mut, auch einmal Fehler zu machen, die sind unser Zukunftspotential. Es ist tödlich, sie auf Stromlinienform und Kadavergehorsam zu trimmen, ihnen Stallgeruch anzuerziehen, sie zu behandeln wie No-Name-Produkte und sie damit von Menschen auf Stelleninhaber zu reduzieren. Genau das vernichtet ihren Idealismus, ihre Begeisterung, ihre unbekümmerte Art, ihren Ideenreichtum und ihre Loyalität. Und auf diese Weise werden wir sie, wie meinen jungen Nachbarn, los.
Wir Manager und Unternehmer verwenden eine Menge Zeit darüber nachzudenken, wie wir Arbeitsabläufe, Maschinenausstattungen und Organisationsformen verbessern könnten. Sollten wir nicht viel mehr über unsere Mitarbeiter nachdenken?
Adolf Kolping hat einmal in einer Rede gesagt: „Wer Menschen gewinnen will, der muß sein Herz investieren!“ Geht nicht dieser Satz für mich selber so weiter?: „Wer seinen Ehepartner gewinnen will, der muß sein Herz investieren. Wer seine Kinder gewinnen, will, der muß sein Herz investieren. Wer seine Mitarbeiter gewinnen will, der muß sein Herz investieren.
Wer waren eigentlich diejenigen, von denen wir auf gute Weise geprägt worden sind? Mit Sicherheit solche, die nicht nur Erfolge, sondern auch Charakter hatten. Ein inneres Fundament, das ihre Persönlichkeit ausmachte. Menschen mit Kopf und mit Herz, mit Wahrhaftigkeit und klaren, moralischen Maßstäben. Menschen zum Anfassen, als erlebbares Vorbild, Menschen mit Verständnis und Geduld für uns junge, noch in vielem unerfahrene Karriereaspiranten.
Es ist das Recht der Jungen, Bewährtes in Frage stellen zu dürfen, Kritik zu üben, Begründungen zu fordern, Bastionen zu stürmen, ungestüm und vielleicht sogar respektlos zu sein. Ich weiß, das ist nicht immer leicht, das macht unserem Selbstverständnis und unserer Ungeduld zu schaffen, aber wir müssen bereit sein, das zu tragen, zu ertragen und eines zu begreifen: Dynamik, schöpferische Impulse, neue Ideen, auf die Zukunft gerichtete Denkweisen, sie kommen aus dem Spannungsmodell des Gegensätzlichen.
Alles um uns und in uns unterliegt dem Gesetz der Polarität. Anziehungs- und Fliehkraft, Sommer und Winter, Tag und Nacht, Sonne und Regen, Frost und Hitze, Einatmen und Ausatmen, Jung und Alt.
In jeder Gemeinschaft, sei es eine Firma, ein Verein, eine Partei, eine Bewegung, gibt es die Progressiven, die am liebsten das Frühere über Bord werfen, alles in Frage stellen, alles verändern wollen.
Und es gibt die Konservativen, die am liebsten die Dinge so lassen, wie sie sind. Die zuerst einmal gegen Neues Bedenken anmelden. Ihre Sätze fangen normalerweise so an: Ja, aber..
Und alle diese Menschen gehören zu uns. Wir brauchen sie. Die Eroberer und die Bewahrer, die Stürmer und die Verteidiger, die Furchtlosen und die Bedächtigen, die Jungen und die Alten.
Wer nur noch Jasager um sich duldet, wer Anpassung erwartet und verlangt, der stellt damit die Weichen zum fruchtlosen Stillstand.
Leben, lebendiges Leben ist immer Polarität, ist immer Spannungsmodell und wenn jemand in der Lage zu sein hat, das auszuhalten, dann die Erfahrenen, Bewährten, Gereiften, die Älteren.
Ich fordere uns auf, dort intolerant zu sein, wo Menschen anderen Menschen die Würde nehmen. Ich fordere uns auf, dort intolerant zu sein, wo uns Unehrlichkeit, Untreue und Verführung begegnen. Ich fordere uns auf, uns gegenüber intolerant zu sein, wo Betriebsblindheit, Unfehlbarkeitswahn und Egozentrismus angefangen haben, von uns Besitz zu nehmen. Und ich fordere uns auf, uns selbst gegenüber intolerant zu sein wo wir die Frage nach den Sinn unseres Lebens, die Frage nach der Verantwortlichkeit für unser Denken und Tun und die Frage nach dem Letzten, alles Entscheidenden, die Frage nach Jesus Christus, immer wieder vertagen.
Karlheinz Binder
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Die Verwechslung
Als der Infrarot-Sensor mein Nahen registrierte, setzte sich die chromblitzende Hotel-Drehtür lautlos in Bewegung, nahm mich förmlich in den Arm und leitete mich ins Foyer.
Die IVCG-Leute hatten ein Hinweisschild aufgestellt mit richtungsweisenden Pfeil nach links und ich folgte ihm.
An Ende einer Reihe gläserner Vitrinen, in denen örtliche Boutiquen ihre vornehmen Artikel präsentierten, standen fünf Herren, einander zugewandt im intensiven Gespräch. Als sie mich wahrnahmen, formierte sich die Gruppe zum Halbkreis, einer von ihnen kam mit strahlendem Gesicht auf mich zu, hielt mir die Hand entgegen und sagte: „Grüß Dich, ich bin der Erich!“
Ich lachte genau so herzlich zurück, antwortete mit einem langen, kräftigen Händedruck: „Und ich bin der Karlheinz“, während in meinem Hinterkopf ein intensives Suchprogramm startete. Mein Gehirn glich das optische Bild des vor mir Stehenden mit allen jemals gemachten Sinneseindrücken ab und checkte zugleich alle Gedächtnisinhalte über sämtlich Erichs, die ich jemals kennengelernt hatte.
Aber schon wieder ergriff einer energisch meine Hand, der zweite der fünf: „Ich bin der Friedhelm“, tönte er und renkte mir fast die Finger aus. Das gleiche Ritual vollzog sich mit der Nummer drei und Nummer vier, aber der fünfte musterte mich lange, intensiv und fast mißtrauisch und dann stellte er fest: „Du Erich, den kenne ich überhaupt nicht!“ Und wieder zu mir gewandt: „Hast Du wirklich damals bei Professor Winterfeld studiert?“
„Moment mal“, sagte ich und blieb unwillkürlich beim Du: „Seid Ihr denn nicht von der IVCG?“
„Wer ist das“?
„Die Internationale Vereinigung Christlicher Geschäftsleute.“
„Nie gehört, erkläre mal“. Und das tat ich dann, nicht ohne die abschließende Frage, mit wem, bitteschön, denn ich es zu tun hätte.
„Wir haben alle hier an der Uni vor genau fünfundzwanzig Jahren unser Diplom gemacht und dieses Jubiläum feiern wir heute“ erklärte Erich, und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Wir fühlten uns durch diesen Irrtum auf eine heitere Weise miteinander verbunden, stellten fest, daß wir uns mochten und der eine von ihnen, der mich so skeptisch angesehen hatte, meinte: „Du, bei uns wird es heute abend eine ganz große Fete geben. Wenn es bei Eurer IVCG langweilig ist, dann haust Du einfach ab und kommst zu uns rüber. Betrachte das als verbindliche Einladung!“
„Klasse“, sagte ich, „da gibt es nur ein Problem: Ich bin nämlich der Referent“. Und dann lachten wir sechs so laut, daß der Portier von der Rezeption besorgt herüberblickte.
Erich schlug mir auf die Schulter: „Auch wenn Du der Redner bist: Wenn es langweilig wird, hast Du erst recht einen Grund, Dich zu verdrücken, das Angebot bleibt bestehen, klar?“
Auf dem Weg zum Bankett-Raum erinnerte ich mich an mein eigenes Klassentreffen. Auch wir hatten bei der Abschlußfeier einander versprochen: Hier und heute in fünfundzwanzig Jahren! Und dann standen wir uns nach so langer Zeit tatsächlich wieder gegenüber, die meisten auf den ersten Blick erkennend, bei manchen ratlos, bis wir allmählich im Aussehen und der Gestik die Züge des anderen wiederentdeckten, seine Besonderheiten, seine Originalität, das, was ihn und nur ihn ausmacht.
Jeder von uns ist einmalig. Noch nie hat es Ihresgleichen und meinesgleichen gegeben und nie wird jemand existieren, der genauso ist wie Sie und ich. Wir sind genuine Schöpfung eines liebenden Gottvaters. Oder hätte er sonst die Mühe und Arbeit auf sich genommen, aus jedem von uns ein Unikat zu machen?
Andere mögen uns wohl verwechseln, er nicht, niemals.
Da war dieser Jeremia im Alten Testament. Sein Vater Priester, und sicherlich lag auch vor diesem jungen Mann eine klare, theologische Laufbahn.
Und dann ruft Gott ihn plötzlich und Jeremia ahnt, das ist das Ende der Alltäglichkeiten, der Bruch mit der Normalität und deshalb versucht er sich zu drücken: Erstens, Gott, habe ich kein großes Talent als Redner, und zweitens bin ich noch viel zu jung!
Und Gott sagt zu ihm: Erstens, Jeremia, sage nicht, du bist zu jung, und zweitens, ich kannte dich, ehe du gezeugt und geboren warst!
Einer unserer Kirchenväter hat es so gesagt: „Jeder Mensch ist ein Gedanke Gottes“.
Wir sind keine biologischen Zufallsprodukte, sondern erklärter Wille des Schöpfers und genau darin liegt unsere unverwechselbare Einmaligkeit, unser Wert und unsere Würde, eben das, was uns ausmacht. Und genau darin liegt unsere Verantwortung.
Wir sind die einzigen Lebewesen, denen Gott, der Unendliche, Ewige, Unfaßbare, sich durch seinen Sohn Jesus Christus verständlich und verstehbar gemacht hat. Wir sind die einzigen Lebewesen mit der Fähigkeit, darauf zu reagieren, Antwort zu geben. Und genau hier liegt für mich die Trennlinie: Ob einer groß ist, oder ob er Größe hat. Ob einer religiös ist oder Christ. Ob einer seine Identität in sich selbst, oder in Gott findet. Ob einer Person ist oder Persönlichkeit.
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Abendsegen
Ich war noch einmal hinausgegangen aus dem klimatisierten Hotel in den sonnigen, warmen, samtenen Frühlingsabend.
In einer Stunde hatte ich einen Vortrag zu halten und es galt, mich darauf zu konzentrieren.
Drüben von der Kieler Förde tutete tief und platzheischend ein Dampfer, eine der großen, modernen Fähren nach Skandinavien. Ich sah ihr eine Weile nach, überlegte, wann und wo meine Frau und ich in diesem Jahr wohl Urlaub machen könnten und plötzlich sprach mich jemand von der Seite an: “Verzeihen Sie bitte, aber dürfte ich Ihre Aufmerksamkeit für einen Moment in Anspruch nehmen?“
Langsam wandte ich den Kopf, meinesgleichen neben mir vermutend, und mein Blick fiel auf einen dicken, an der Knopfleiste und den Revers schon stark ausgefransten Wintermantel, darüber tagealte Bartstoppeln und zwei wache Augen, die mich fragend musterten.
“Mein Name ist Rolf Behr“, sagte der Mann, “ich habe schon bessere Zeiten gesehen und bin kein Penner“. Er faßte in seine linke Innentasche: “Hier, sehen Sie diese Sonnenbrille, das ist ein Designermodell. Die hat keiner, der nur noch Wermut trinkt“.
Ich lächelte bei seinen Worten. Wie oft hatte ich das schon erlebt, wenn auch auf einem gesellschaftlich anderem Niveau, daß sich Leute gegenseitig ihre edlen Armbanduhren vorführten, ihre mehr oder weniger dezenten Automarken, ihre Begleiterinnen samt edlem Schmuck, um deutlich zu machen, wo sie sozial hingehörten.
Der Nachweis von Rolf Behr fiel da erheblich bescheidener aus.
So reduzieren sich wohl, dachte ich, in bestimmten Phasen die Wertigkeiten mit denen wir dokumentieren wer wir sind. Oder eben auch, wer wir nicht sind. Aber das Prinzip bleibt das gleiche, letzten Endes hilflos.
„Wie sind Sie in diese Situation gekommen?“
„Ich war selbständiger Kleinunternehmer mit einem festen Kundenstamm, verdiente gut, hatte ein Auto, eine Freundin, und dann machte eine große Kette in genau der gleichen Branche hier eine Filiale auf. Sie waren billiger als ich, wohl weil sie alles zentral einkauften und mit niedrigeren Kosten arbeiteten. Eines Tages war ich pleite. Geld weg, Kunden weg, Auto weg, Freundin weg. Keine Absicherung weil ich immer gemeint hatte, das Geld könne man sich sparen. Das Endergebnis sehen Sie vor sich. Und auch dieses Geschäft läuft schlecht. Die meisten, die ich anspreche sagen mir: „Such Dir eine Arbeit“. Oder: „Geh zum Sozialamt“. Oder: „Sorry, aber ich habe kein, oder kein passendes Geld bei mir“.
„Und was kann ich für Sie tun?“ fragte ich.
„Sie könnten mich durch eine kleine Spende in die Lage versetzen, mir eine Abendmahlzeit zu kaufen. Es wäre dann auch die erste heute“.
Ich griff in meine Jacke und stellte fest, meine Brieftasche steckte in meinem Reiseanzug, aber der hing oben auf meinem Zimmer.
Als ich es ihm sagte, wurde sein Gesicht traurig und enttäuscht.
Da hakte ich ihn unter, zeigte hinüber zum Hotel: „Kommen Sie mit, ich hole Geld“.
Unterwegs wollte er von mir wissen, wozu ich in der Stadt sei und ich erzählte ihm, heute Abend würde ich als Christ einen Vortag für Geschäftsleute, Opinion-Leaders, Verantwortungsträger halten, um deutlich zu machen, daß es in einem Leben auf mehr ankommt, als auf Erfolg. Er hörte mir sehr genau zu und hatte eine Menge Fragen.
Der Portier, der mir vorhin bei meinem Eintreffen diensteifrig die Hotel-Eingangstür offengehalten hatte, sah uns entgegen, irritiert, wie wir zwei Arm in Arm nahten und als ich hineinging, rührte er, fast ratlos, keine Hand.
Rolf Behr sah mir gespannt und mißtrauisch hinterher.
Ich fuhr auf mein Zimmer, nahm einen der Lage angemessenen Geldschein und kehrte zurück.
An der Rezeption und der goldbetreßten Amtsperson in Grün vorbei ging ich zu dem schon fast vertraut gewordenen Wintermantelbesitzer.
Rolf Behr strahlte mich an: „Ich habe nicht geglaubt, daß Du wiederkommst. Ich dachte, Du würdest die einmalig günstige Situation für einen eleganten Abgang nutzen“.
„Ich hatte es Dir versprochen“, sagte ich und empfand das plötzliche Du zwischen uns als absolut nichts Fremdes.
Er nahm das Geld, stecke es sorgsam zu seiner Sonnenbrille, breitete beide Hände aus, schloß mich samt meinem dunkelblauen Gesellschaftsanzug in seine Arme und ohne daß ich auch nur einen Moment zögerte, tat ich das gleiche. Und dann sagte er zu mir: „Mein Bruder, Gott segne Dich“.
Von der Treppe aus winkte ich ihm noch einmal zu.
Der Portier war verschwunden. Er hatte sich verdrückt um so dem Problem zu entgehen, ob er mir die Tür vielleicht doch aufmachen sollte oder vielleicht auch nicht.
Als ich in meinem Zimmer war wurde mir klar: Ich hatte soeben ganz real und handgreiflich eine Stelle aus dem Neuen Testament erlebt, die ich schon so oft ohne inneren Bezug gelesen hatte: „Was nützt es Euch, wenn Ihr denen Gutes tut, die Euch wiederum Gutes tun. Ihr erzeugt damit doch nur einen wirkungslosen internen Kreislauf von Gefälligkeiten….Die Reichen in dieser Welt sollen sich weder etwas auf ihr Vermögen einbilden, noch sollen sie darauf vertrauen, sondern sie sollen alle ihre Zuversicht und Hoffnung auf Gott setzen, damit sie Gutes tun, reich werden an guten Taten, gern geben, behilflich sein und sich damit einen Schatz sammeln als Grundlage für die Zukunft, damit sie das wahre, das wirklich wahre Leben ergreifen“.
Liegt darin vielleicht der Unterschied zwischen arm und armselig?
Arm ist einer, der nichts hat; armselig ist einer, der nichts gibt.
Arm ist einer, dessen Geldbörse, armselig einer, dessen Herz leer ist.
Arm ist einer, der niemanden hat, der ihn segnet; armselig ist einer, der keinen hat, den er selber segnet.
Drei Fragen drängen sich auf:
Zum ersten, was machen wir, Sie und ich, mit unserem Geld?
Und zum zweiten: Wann hat Sie jemals einer, sei er nun arm oder reich, in die Arme genommen und Sie im Namen Gottes gesegnet?
Und zum dritten: Wann haben Sie zum letzten mal einem Menschen, seien es Ihr Ehepartner oder Ihre Kinder, gesagt: Gott segne Dich!?
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Drama auf Rheinstein
Es klingelte und als ich die Tür öffnete, stand da der Briefträger mit einem großen, dicken Umschlag. „Also“, sagte er, „ich habe es probiert, aber beim besten Willen, er paßt nicht durch den Schlitz, da mußte ich Sie stören“.
Mit Messer und Schere rückte ich mühsam dem überaus reichlich und mit deutscher Akribie vielfach um die Sendung geschlungenen, zähen Klebeband zu Leibe und zum Vorschein kam ein Fotoalbum.
Uns übersandt von lieben Freunden zur Erinnerung an ein zauberhaftes Wochenende im fröhlichen Kreis auf der Burg Rheinstein, einen runden Geburtstag zu feiern.
Und als ich in den Seiten blätterte, die lieb gewordenen Gesichter sah, die anmutige Flußlandschaft im strahlenden Sonnenschein, die Burg, zwischen grünen, üppigen Baumwipfeln aus dem wuchtigen Fels emporwachsend mit ihren trutzigen Mauern und filigranen Türmen, kamen wieder die Erinnerungen an dieses schöne, unbeschwerte, fröhliche Wochenende.
Da war eine Aufnahme vom Innenhof, dem weinrankenüberwachsenen Burgundergarten. In der Mitte ein sandsteingefaßter Brunnen, sorgsam vergittert, zu Recht, wie der Blick in die schaudernde, fast endlose Tiefe schwindelnd zeigte. Und ein paar Meter weiter, da hatte die völlig überraschende, herzergreifende Aufführung jenes Ritter-Dramas stattgefunden, eines Schauspiels, das von Art und Inhalt keine bessere Kulisse als hier hätte finden können.
Wir Gäste bemerkten vorher nur, daß sich unter mehreren von uns eine gewisse Unruhe breitmachte. Sie hielten Zettel in den Händen, studierten sie nicht ohne Aufregung, verschwanden dann im Rudel hinter einer Seitentür und als sie wieder zum Vorschein kamen, waren sie in die Kleidung und Rolle derer geschlüpft, um die sich die mittelalterliche Tragödie drehte: In den schönen, mutigen Herzog, verliebt in die wunderschöne Prinzessin. Ihren Vater, den mächtigen König, der in einem irreparablen Anfall von Starrsinn beschlossen hatte, daß seine Tochter, die wunderschöne Prinzessin, nie eines Mannes Weib werden solle. Und mitten zwischen den Fronten, leidvoll hin- und hergerissen zwischen Mannes- und Kindesliebe, die ergebene Königin.
Und es kam, was in einer Tragödie kommen muß: Der schöne, mutige, leidenschaftliche Herzog nahm sein scharf geschliffenes Schwert, das er vorher in der Burgdiele einer dort aufgestellten Ritterrüstung entwendet hatte und er stieß es dem mächtigen König in die Gegend des Herzens. Erfolgreich, denn der sank mit Röcheln und den obligatorischen Worten: „Ich sterbe“, darnieder.
Die anwesende, ergebene Königin erlitt ob dieses Geschehens augenblicklich die mittelalterliche Frühform eines Herzinfarktes und ging gleichfalls leblos zu Boden.
Der schöne, mutige Herzog, dessen gewahr werdend, was er da angerichtet hatte, ergriff einen überraschend bereitstehenden Becher mit Gift und fiel mit einem letzten, durchdringenden Schrei tot um. Die wunderschöne Prinzessin, aufgeschreckt durch die hohe Phonzahl, stürzte auf die Bühne, überblickte die Szene, schrie außer sich: „Wehe mir, der Kummer wird mich töten!“ was dann auch der Fall war.
Nicht endend wollender Applaus brandete unter uns Zuschauern, in den hinein sich der mächtige König halb aufrichtete und mit ehrfurchtgebietender Stimme darauf hinwies, er sei tot. Dieser Feststellung schlossen sich der schöne, mutige Herzog, die ergebene Königin und die wunderschöne Prinzessin ausdrücklich an und die vier sanken erneut hin.
Uns allen wurde weh ums Herz, besonders aber, nachdem sich der bereits geschlossene Vorhang abermals liftete und der König in die erneut endgültig letzte Feststellung ausbrach: „Der mächtige König ist immer noch tot“.
Aber oh Trost: Unter dem notorisch anhaltenden Applaus erhoben sich die Mimen einer nach dem anderen, zurückkehrend in das, was wir Leben nennen.
Das Stück war zeitgemäß. Sicherlich weniger in seinem Inhalt, denn Könige, Prinzessinnen, Herzöge, sind heutzutage verhältnismäßig rar geworden.
Nein, das Ende.
Wie oft treffe ich Menschen, die Anhänger der Anthroposophie sind, oder Verehrer für den Westen modifizierter, fernöstlicher Lehren. Überzeugt, dieses Leben sei so oft wiederholbar, bis es glückt.
Als ich im letzten Jahr einen neuen Computer kaufte, war im Preis eine Menge Software enthalten. Darunter ein Spiel, bei dem man eine gefangene Prinzessin befreien mußte. Aber der Weg war mit vielen Todesfallen gespickt: Wegklappende Fußböden, wo man in den Schlund eines Vulkans oder in Schächte mit herausragenden Säbeln fiel. Unter harmlosen Wasserflächen lauernde, gierige Krokodile und was nicht alles. Jeder Fehler war absolut und passierte einer, kam die Bildschirmmeldung: „Das war Ihr Ende. Möchten Sie ein neues Spiel?“
Man stirbt, steht wieder auf, fängt noch einmal von vorn an. Was in der vorherigen Existenz noch nicht aufgearbeitet werden konnte, wird zur Aufgabe für das nächste Dasein. Der repetierbare Versuch, durch Tüchtigkeit, Edelmut, Vernunft und Humanität zur Vollkommenheit zu gelangen. Bis es klappt.
Nur in der Bibel, dem für mich einzig verbindlichen und wahren Buch, steht es anders:
Dieses Leben ist einmalig, nicht wiederholbar, entscheidend. Hier und jetzt stellen wir die Weichen, wie und wo wir die Ewigkeit zubringen werden.
Was schrieb Paulus an die Nachdenklichkeit so nötig habenden Leute in Galatien?: „Wir wissen, daß niemand vor Gott bestehen kann mit dem, was er tut. Nur der findet bei Gott Anerkennung, der Gottes Gnadenangebot in Jesus Christus annimmt“.
Wer die durch Christus angebotene Liebe und Versöhnung verspielt, verspielt seine Zukunft. Und auf diesem Hintergrund nützt es uns überhaupt nichts, anzuerkennen, daß Christus gelebt hat. Wenn er nicht unser persönlicher Herr wird und wir sein willentlich erklärtes Eigentum, ist alles verloren. Nicht wir selber, in immer wieder neuen Versuchen und Anläufen, sondern nur Jesus Christus kann gerecht machen, unsere Vergangenheit bereinigen, uns retten und bewahren.
Sollten wir darüber nachdenken, ehe der Vorhang fällt?
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Ichthyologie (Was ist eigentlich Evangelium?)
Zuerst bemerkte ich in den Regenschleiern nur den ausgestreckten Daumen, der mir in gängiger Zeichensprache signalisierte, daß sein Besitzer gern mitgenommen würde.
Schon halb an ihm vorbei trat ich auf die Bremse, setzte zurück und machte, mich hinüberbeugend, die rechte Autotür einladend auf.
Der Anhalter schlug seine Anorak-Kapuze zurück und da erkannte ich ihn, es war der Sohn eines angesehenen und erfolgreichen Geschäftsmannes aus dem Nachbarort meines Wohnsitzes.
„Danke“, sagte er, „ich habe meinen Bus nicht mehr bekommen, weil wir heute in der Penne eine Abitur-Arbeit schreiben mußten. Die war so schwierig, daß ich bis zur letzten Minute voll zu tun hatte“.
Wir unterhielten uns die nächsten drei oder vier Kilometer über die Schule und ihren Streß und mir fielen dabei meine gelegentlichen Alpträume wieder ein: Manchmal, wenn ich nachts schlecht schlief, wiederholten sie sich. Ich saß mitten in einer Mathe-Arbeit und als ich den Umschlag mit den Aufgaben öffnete, waren das ohne Ausnahme solche, bei denen ich aus irgendwelchen Gründen im Unterricht gefehlt hatte. Schweißgebadet und fast panisch starrte ich ratlos auf das Papier, bis ich ebenso schweißgebadet aufwachte und mir drei- oder viermal sagte: Ruhig, ganz ruhig, das hast Du alles hinter dir! Dann wurde mein Herz allmählich wieder frei. Und als der junge Mann von der rigorosen Anspannung bei seinem Abitur erzählte, konnte ich seine Situation lebhaft mitempfinden und miterleiden.
„Übrigens“, wechselte er plötzlich das Thema, „was bedeutet eigentlich der Fisch neben Ihrem Nummernschild am Heck?“
Das ist ein Symbol, mit dem sich die Christen schon vor fast zweitausend Jahren gegenseitig zu erkennen gegeben haben.“
„Und warum haben Sie das selber am Auto?“
„Weil ich Christ bin“, sagte ich, „eben nicht christlich, sondern Christ“.
„Und wo liegt da der Unterschied?“
„Nun, einer der wirklich Christ ist, lebt vom Evangelium her, weil…“, aber an dieser Stelle unterbrach er mich: „Was verstehen Sie unter Evangelium?“
Ich sah ihn verblüfft von der Seite an: „Das Neue Testament. Kennen Sie es nicht?“
„Meinen Sie damit die Bibel?“ war seine Reaktion.
Ich nickte mit dem Kopf und er ergänzte: „Es klingt vielleicht komisch, aber ich habe in meinem ganzen Leben noch nie eine Bibel in der Hand gehabt. Das sind alles für mich Fremdwörter“.
Wir waren angekommen. Ich hielt, wir gaben uns die Hand, er stieg aus und ließ mich irritiert zurück. Da hatte dieser achtzehn- oder neunzehnjährige einen intelligenten, tüchtigen, angesehenen Vater, eine kultivierte, kluge, gebildete Mutter, er selber stand mitten im Abitur, den Kopf gefüllt mit Erkenntnissen, Wissen und Weisheiten, aber er kannte die Bibel nicht. Nicht die Botschaft von Jesus Christus, die seit Jahrhunderten Basis für das Christliche Abendland war. Lebensinhalt vieler vor Gott großer Menschen. Namensgeber und Karteimerkmal für die überwiegende Mehrheit aller Einwohner Europas, die sich katholisch, evangelisch, reformiert, freikirchlich, methodistisch, anglikanisch, calvinistisch oder orthodox nannten und sich auch so betrachteten und mitten unter ihnen wachsen Menschen auf in absoluter Funkstille, wie in einem Faradayschen Käfig.
Wer hatte schuld?
Seine Eltern, die zwar für die gesicherte materielle und intellektuelle Zukunft ihres Sohnes gesorgt hatten, aber nicht für seine Seele und deren Heil?
Er selber, weil er sich nie die Zeit genommen hatte, über das Alltägliche hinauszudenken und sich zu fragen, ob Leben nicht einen Sinn haben sollte, haben muß?
Seine Umgebung, die über alles redet, kein Thema mehr als tabu empfindet bis auf dieses eine: Jesus Christus?
Wir alle, die wir uns Christen nennen, es aber kaum mehr sind, weil wir die letzten Worte des Jesus, seinen Marschbefehl, ignorieren: „Gehet hin in alle Welt und verkündigt die Gute Nachricht: Wer zum Glauben kommt und sich taufen läßt, wird gerettet!“
Um dieses einen jungen Menschen und um der vielen anderen werden wir uns als Eltern, Freunde, Vorgesetzte, Nachbarn, vor allem aber als Christen zu verantworten haben:
Warum es immer mehr Menschen gibt, die noch nicht einmal mehr wissen, ob das Wort Bibel nun mit „i“ oder mit „ie“ geschrieben wird.
Warum wir geschwiegen haben über die freimachende Botschaft, daß dieser Christus der Weg und die Wahrheit und das Leben ist.
Warum wir den jungen Menschen nichts gesagt haben von der Hoffnung und der Zuversicht, die Gott uns geben will, einer Zuversicht, die über das Jahr Zweitausend in die Ewigkeit reicht.
Frage: Weiß Ihr Sohn, weiß Ihre Tochter, weiß Ihr Ehepartner, wissen Sie selber, worum es im Christsein geht?
Wenn Nein, was dann?
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Metamorphose
„Hier gleich rechts um die Ecke müßte es sein“, sagte Weber zu mir und studierte seinen Zettel mit der Wegbeschreibung.
Es stimmte. Nach knapp zwanzig Schritten standen wir vor der Tür des kleinen Lokals, das Ulrich Wiegand, unser Gastgeber, als Geheimtip angepriesen hatte, mitten in der Kölner Altstadt.
Wiegand war schon da, zusammen mit seinen beiden Prokuristen. Sie geleiteten uns zum bestellten Platz, gaben dem Ober das internationale Zeichen „Bier marsch“ und kaum hatten wir uns niedergelassen, standen schon fünf Kölsch in diesen griffigen Stangengläsern vor uns auf der fast monumentalen Tischplatte, sechs Zentimeter stark aus massiver Kiefer, widerstandsfähig selbst gegen den leidenschaftlichsten Grand mit Vieren und unter uns vertrauenerweckende Stühle mit mindestens zehnfacher statischer Sicherheit gegen Höchstbelastungen.
Die Gläser bis kurz unter Augenhöhe gelupft, blickten wir uns über den so geschaffenen Horizont lächelnd an, riefen „Prost“, ergänzt durch das obligatorische „Ah“ nach dem ersten, tiefen Zug und wir wußten: Das würde ein fröhlicher Abend in dieser urigen, heimeligen Kneipe, so ganz ohne verkrampft nachgemachte Rustikalität, mit dem dicken, gemütlichen Wirt hinter den sorgsam polierten Messing-Zapfhähnen und dem appetitmachenden Duft von meisterhaften Bratkartoffeln in der Luft.
Es dauerte keine fünfzehn Minuten, da war das Lokal proppenvoll. Nur am Tisch neben uns, ganz verloren umringt von vier leeren Stühlen, stand ein einsames Schild „Reserviert“. Aber als wir gerade bei der dritten oder vierten Runde Kölsch saßen, gespannt auf das Essen warteten, ging die Tür auf, drei Japaner kamen herein, wie dem edelsten Herrenjournal für gediegene Managermode entstiegen, dunkelblaue Maßarbeit, seidene Krawatten, weit jenseits der Hundertmarkgrenze. Der Ober führte sie zu ihren reservierten Plätzen, sie machten eine leichte Verbeugung zu uns herüber, genau abgewogen, nicht zu tief und nicht zu knapp und dann setzten sie sich, bestellten noch nichts, warteten offensichtlich. Endlich kam der für den vierten Stuhl Bestimmte. Die drei standen auf, neigten ihre Oberkörper sehr viel tiefer als vor uns und wir wußten: Das ist der Boß. Sie blieben, noch immer leicht verbeugt so lange stehen, bis er sich gesetzt hatte und dann nahmen auch sie wieder Platz.
Die Unterhaltung war sehr einsilbig. Jeder der drei Untergebenen sprach nur, wenn der vierte ihn anredete. Zeremoniell, geprägt durch tausend Jahre Tradition.
Der Ober ging zu ihnen und fragte was es denn bitteschön zu trinken sein solle und der Oberste von ihnen bat im fernöstlichen Englisch um seine Empfehlung. Die Antwort „Kölsch“ wurde nicht sofort begriffen, aber der Wirt an der Theke griff sich entschlossen vier Gläser, schenkte ein, brachte sie herüber, der japanische Sprecher nahm sein Glas, setzte an und als er es zu unserer Verblüffung leer wieder hinstellte, sagte er „Ah“. Und die drei anderen taten desgleichen. Unter sofortiger Nachbestellung..
Wir fünf germanischen Geschäftsfreunde konzentrierten uns wieder auf uns selber, setzten die eigenen, lebhaften Gespräche fort und im Laufe des Abends mußten wir immer lauter reden, denn am Nebentisch nahm Revolutionäres seinen Anfang und Lauf. Die sich mehrenden Runden verursachten eine Art zweiten Sturm auf die Zwingburg Bastille, sie schleiften gewissermaßen die Mauern der Hierarchie, Reputation und Verhaltenszwänge und bahnten den Weg zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Unsere Nachbarn nickten sich lachend zu, schüttelten mit wechselnder Beteiligung gegenseitig Hände als eine Art europäischer Bekräftigung japanischer Übereinstimmung. Sie redeten eifrig durcheinander, jeder mit jedem, alle zugleich und verstanden sich großartig.
Als sie dann zu später Stunde gingen, ausgelassen, gestikulierend, sorglich gestützt von den kräftigen Kellner, kam uns plötzlich das Lokal still und nahezu verlassen vor.
Wie werden, überlegte ich, die so netten Japaner sich in ein paar Stunden beim Frühstück begegnen? Immer noch mit einem freunschaftlich verstehenden Lächeln im Blick? Oder wieder distanziert? Zurückgepreßt in ihre statusdiktierten Rollen mit zwei Seelen in der Brust?
Was verhindert eigentlich unsere wesenhafte Wahrhaftigkeit? Warum zerfallen wir auf nahezu schizophrene Weise in Amtsperson und Mensch, in Geschäftsmann und Familienvater, in Manager und Christ?
Warum eigentlich braucht es bei manchen Menschen erst nullkommaacht bis einskommasechs Promille um erkennbar zu machen, daß sie nicht nur aus kontrollierten Funktionen, sondern auch aus Gefühlen bestehen, nicht nur aus Kopf, sondern auch aus Herz, nicht nur aus Rollenverhalten, sondern aus lebendiger Individualität?
Wo sind die Mutigen, bei denen Innen und Außen, Wollen und Handeln übereinstimmen? Wo sind sie, die Wahrhaftigen, bei denen Anspruch und Wirklichkeit sich decken? Wo sind sie, die Zuverlässigen, bei denen ein Ja nicht nur ein bedingtes ist? Wo sind sie, die Menschen, die nicht opportunistisch in die jeweilige Rolle kriechen, sondern Charakterfestigkeit haben? Wo sind sie, die Tapferen, die ihren Glauben an Gott mitten im Alltag, mitten in ihren Berufen erkennbar leben? Die nicht im seltsamen Gespaltensein destruktives Beispiel für ein Leben in mehreren Welten sind, situationsbedingt mit wechselnder Staatsbürgerschaft.
Da berichtet der Apostel Johannes von Verantwortungsträgern aus der Hauptstadt Jerusalem: „In der Gesellschaft gab es viele führende Leute, die an Jesus Christus glaubten, aber aus Furcht vor den tonangebenden Pharisäern bekannten sie es nicht. Die Anerkennung durch die Menschen war ihnen wichtiger als die Ehre bei Gott“. Auch hier schizoides Rollenspiel?
Und wieviel Gläser braucht es bei Ihnen, bis Sie der sind, der Sie sind?
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Gewichtsprobleme
„Du“, sagte ich zu meiner Frau und strahlte über das ganze Gesicht, „ich habe abgenommen“.
„Gratuliere“, antwortete sie mir und ließ ihren Blick prüfend über meine Figur wandern, „man sieht es zwar noch nicht so recht, aber vielleicht fängt bei Dir dieser Prozeß ja inwendig an“.
Ich ging zurück ins Badezimmer und stellte mich erneut auf meine hochtechnisierte, elektronische Waage mit langjähriger Garantie. Die Zahlen der digitalen Anzeige sprangen einigemal hin und her und dann kam das Endresultat: Kein Zweifel, es blieb dabei, ich wog weniger als vor einer Woche.
Mich erfüllte ein stiller Stolz über meine energische Beharrlichkeit, das optimale Gewicht wieder zu erreichen und als am nächsten Morgen das Ergebnis abermals niedriger lag, stürmte ich beschwingten Schrittes in den Tag und fühlte mich leicht wie eine Feder.
Am gleichen Abend aber hatte ich laut Wiege-Ergebnis gegenüber dem Morgen glatte, volle drei Kilo verloren und das machte mich stutzig.
Ich kramte die ausführliche Gebrauchsanweisung in sage und schreibe sieben Sprachen für mein Gewichtsermittlungs-Instrument hervor, suchte mühsam nach dem Erklärungstext in Deutsch und las: Zeigt das Gerät plötzlich unrealistisch erscheinende Werte an, drücken Sie bitte auf den Knopf für die Kontrolle der Batterie. Erscheint im Display ein „E“ muß sie ausgetauscht werden. Und so war es auch.
Schweren Ganges stieg ich hinunter ins Gästebad. Kletterte dort auf die alte, knarrende, ehrwürdige und ganz mechanische Waage und da schlug die Stunde der ernüchternden Wahrheit: Nicht meine Energie, sondern die nachlassende des Akkus hatte den Scheinerfolg produziert, es war alles beim alten geblieben.
Während ich über meinen Mißerfolg grübelte, erinnerte ich mich an eine Begebenheit, die in der Bibel beschrieben ist. Da wurde auch einer gewogen. Nur im Gegensatz zu mir war es nicht sein Ziel abzunehmen, sondern immer gewichtiger zu werden. In Statur, Bedeutung, Renommee, Machtfülle, Erfolg und Selbstverständnis.
Und weil solche Menschen, wie jeder von uns, immer wieder Bestätigung durch die anderen brauchen, lud dieser Mann,
Belschazzar, Herrscher über das damalige Weltreich Babylonien, die wichtigsten Leute seines Staates, die Großen, in die Hauptstadt zu einem Bankett ein und ich kann mir denken, daß viele Huldigungsreden zu seiner Ehre gehalten wurden, denn sein Wort und sein Wille waren schließlich Gesetz im gesamten Reich. Wehe dem, der sich da unbeliebt machte, gegen die ungeschriebenen aber erwarteten Ergebenheitsrituale verstieß und damit die Gnade seines Chefs verscherzte. Er war erledigt.
Es wurde ein rauschendes Fest, das -wie so oft üblich- in ein Besäufnis überging und zu fortgeschrittener Stunde ließ Belschazzar im trunkenen Übermut die beim Krieg gegen Jerusalem aus dem Tempel erbeuteten Kultgefäße bringen und aus denen trank man weiter. Aber dann geschah das, was mich schon als Kind so sehr beeindruckt und beschäftigt hat: Eine geisterhafte Hand schrieb einen Satz an die weiße Mauer und Belschazzar fing an zu ahnen: Das ging ihn an. Und sein Gesicht nahm die gleiche Farbe an wie die Wand.
Daniel, einer der Gefangenen aus Jerusalem, eilig herbeigeholt als der einzige, der das Geschriebene identifizieren konnte, las ihm vor: „Mene mene tekel“ und er lieferte ihm die Übersetzung gleich mit: „Gewogen, gewogen und zu leicht befunden.“
Mein König, sagte er, nimm zur Kenntnis, in Deinem Leben gibt es Gewichtsdifferenzen. Deine Einschätzung über die eigene Person und die berechnet wohlklingenden, servilen Schmeichelreden Deiner Vasallen haben zu einer Meinungsbildung geführt, die Selbsttäuschung ist. Alles andere hast Du in Deinem Leben für wichtig erachtet, nur nicht Gott. Den Gott, der Deinen Lebensatem in seiner Hand hat. Du hast ihn weder geehrt, noch steht er auf Deiner Rechnung. Du täuschst Dich dramatisch über Deine eigene Person, obwohl es genügend konkrete Berichte darüber gibt, was aus Menschen wird, deren Ich ihr eigener Lebens-Mittelpunkt ist. Und Du hast noch eines vergessen: Daß Gottes Maßstäbe und Eichmaße anders sind, als die Deinen.“
Und nun frage ich Sie, der Sie gerade diese Zeilen lesen: Ist Ihnen im letzten Absatz etwas aufgefallen? Ich habe sowohl gegen die alten, wie auch gegen die neuen Regeln der Rechtschreibung verstoßen, denn „Dein“ und „Du“ müssen grundsätzlich klein geschrieben werden beim Zitat von Dialogen, Artikeln und Vorträgen. Große Anfangsbuchstaben sind nur erlaubt in der direkten Anrede einer konkreten Person.
Laut Duden habe ich einen Fehler gemacht.
Aber bewußt, denn ich ahne: Die konkrete Person ist hier nicht nur der kreidebleiche Belschazzar, sondern sind Sie und ich!
Mit einem energischen Gruß von Daniel,
Karlheinz Binder
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Stallgeruch
„Du Karlheinz“, sagte mein Freund Johannes aus Mannheim am Telefon, „am Sonnabend will ich ins Simonswälder Tal. Wie siehst Du die winterliche Lage oben im Schwarzwald, denn Du bist ja näher dran?“
„Du bekommst meine zuverlässige Prognose einschließlich Schneebericht, aber unter einer Bedingung“, antwortete ich ihm, nämlich daß Du wenigstens zu einer Tasse Kaffee kurz bei uns vorbeikommst.
„Von Herzen“, rief er, „bis dann und Tschüs“.
Es wurde ein fröhliches Wiedersehen und als Johannes sichtlich mit sich kämpfend gerade das dritte Tortendreieck fixierte, hatte er eine Idee: „Wie wäre es, wenn wir zwei Männer zusammen in den Schwarzwald rauffahren. Es könnte für Dich genauso interessant sein, wie für mich. Du weißt, daß wir zuhause eine Bauernuhr haben. Keine, die museumsreif und überaus wertvoll wäre, aber eine, die wir lieben. Und nun hat das Zifferblatt einen Riß bekommen, der sich kaum mehr reparieren läßt, aber dort oben gibt es einen Bauern, der macht in den Wintermonaten ganz in der Tradition seiner Vorväter auf altem Holz Zifferblätter, praktisch original und mit dem gleichen Rosen-Motiv wie eh und je. Nicht gerade billig, wie man mir sagte, aber dafür ist jedes Stück ein absolutes Unikat. Das will ich mir ansehen. Vielleicht kann meiner armen Uhr geholfen werden“.
Ich zog kurz entschlossen meinen Mantel an, gab meiner Frau einen Reise-Abschiedskuß und wir brausten mit seinem allradgetriebenen Geländewagen los.
Rund zweihundert Meter vor dem bewußten Gehöft mußten wir das Auto stehen lassen. Der Schnee wurde zu tief und der Verlauf des Weges war nur durch Fußspuren markiert mit dem Risiko, daß die Hofbewohner irgendwo geradlinig abgekürzt hatten und wir im unsichtbaren Graben landeten.
In der Höhe von über achthundert Metern und am Nordhang war es empfindlich kalt und als nach zweimaligem Rufen der Bauer aus dem Fenster schaute und uns das Zeichen gab, er käme, froren wir zwei spontan etwas weniger.
Er führte uns am Wohnhaus vorbei zu einem Seiteneingang.
Als wir eintraten, standen wir im Kuhstall. Die Wärme der Tiere schlug uns entgegen und zugleich der durchdringende, fast den Atem nehmende Geruch nach Mist, Kraftfutter und Ammoniak.
Es ging eine kleine Treppe empor, durch eine zweite Tür, und plötzlich standen wir im Wohnraum, zurückversetzt in die fast vergessenen Zeiten archaischer, familienumschließender, schutzgebender Wohnkultur des Schwarzwaldes. Halb in der Ecke ein großer Kachelofen mit Bank und schnurrender Katze. Darüber trocknende Wäsche. Am großen Tisch die Kinder, beschäftigt mit Schularbeiten. Auf dem Küchenherd dampfte aus einem Topf Suppe, aus dem anderen Knochenleim. Es roch nach Farbe, Klebstoff, Waschpulver, Gewürzen, Kohl, Bohnerwachs und noch immer, wenn auch reduziert, den methanhaltigen Abgasen der muhenden Wiederkäuer von nebenan.
Die Bäuerin kam auf uns zu, bot uns ein hochprozentiges Kirschwässerli an und wir stellten fest, daß die versammelte Familie aus netten, freundlichen, frohen Menschen bestand.
Johannes wurde mit dem Bauer über Größe, Ausführung sowie Preis des Zifferblattes einig und nach fast herzlichem Abschied waren wir wieder im Kuhstall. Dann draußen in der Dämmerung.
Johannes sah mich von der Seite an und sagte: „Du, geht es Dir auch so? Ich finde, hier draußen riecht es irgendwie komisch“. Unter Lachen pflichtete ich ihm bei. Wir hatten uns in diesen rund dreißig Minuten an die abenteuerliche Komposition von Gerüchen gewöhnt, an die Düfte im Wohnzimmer und an den Gestank im Kuhstall. Die Normalität zwischen drinnen und draußen hatte sich verwischt.
Als wir mit dem Auto in die Winternacht fuhren, kam mir immer wieder das Wort „Stallgeruch“ in den Sinn. Ich hörte es oft von Unternehmern und Managern, wenn sie über ihre Mitarbeiter sprachen. Stallgeruch sollten sie haben. Jeder zu den anderen passen. Akklimatisieren muß sich ein Neuer, die Gepflogenheiten, Denk-und Verhaltensweisen der bereits Vorhandenen übernehmen, damit harmonische Gemeinschaftlichkeit entsteht.
Das klingt gut und es ist auch wichtig und richtig für Geborgenheitsgefühle, Solidarität, für das Vertrautsein mit Umgebung, Menschen und Verhältnissen, aber, überlegte ich, trug das nicht wie alles, was uns so wohltut, zugleich auch eine große Gefahr in sich?
Das Risiko, über dem Innen das Außen nicht mehr objektiv wahrzunehmen? Die gegebenen Zustände als die Normalität zu empfinden?
Insidertum nennt man das. Diese heimelige, nette, herzerwärmende und weltentfremdende Atmosphäre, in der entstehender Mief von den Beteiligten leider allzuoft überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird.
Es gibt Politiker, die haben keine Nase mehr für ihre Wähler. Gewerkschaftsfunktionäre, die nicht mehr die gleiche Luft atmen wie ihre Beitragszahler. Selbstsichere Firmenleitungen, die mit ihren einsamen, manchmal abgehobenen Top-Down-Beschlüssen ihren Mitarbeitern schon längst stinken. Ehemals dynamische Bewegungen, die so lange in geschlossener Einstimmigkeit Höhenklima erzeugt haben, daß sie inzwischen zu Organisationen degeneriert sind. Früher richtungsweisende Persönlichkeiten, die nur noch Standpunkte austauschen und heiße Luft umwälzen. Kreative Querdenker, die entweder um des lieben Friedens willen beidrehen, oder frustriert das Unternehmen wechseln. Zur Nachdenklichkeit fähige Menschen, die in der überaus dünnen, dürftigen Luft der sogenannten Öffentlichen Meinung inzwischen so wesen-, profil- und glaubenslos geworden sind, daß sie vor lauter Opportunismus kein Vorbild mehr sein können.
Und sie alle pflegen innerhalb ihresgleichen, hinter den Gartenzäunen und Mauern, einen vorbildlichen Stallgeruch.
Kann eine Gesellschaft so ihre Zukunft meistern?
Kann einer so Persönlichkeit sein und bleiben?
Kann einer von uns so ein vor Christus gültiges Leben führen?
Da griff sich Gott den Abraham und sagte ihm, er habe Großes mit ihm vor, Neues, Wegweisendes. Aber es gab eine Voraussetzung: Dieser Abraham sollte seine Heimat, seine Sippe, seine Freundschaften, alles mit dem vertrauten Stallgeruch, hinter sich lassen. Die heimelige Wärme der Gewöhnungen tauschen gegen die sauerstoffhaltige Frischluft des Wagnisses, die scheinbare Sicherheit des Vorhandenen gegen die Bereitschaft, sein Vertrauen in Gott und seine Zusagen zu investieren. Und damit wurde Abraham vom Insider zum Outsider, zum heute noch ehrfurchtgebietenden Erzvater, weil er den Schritt wagte und nicht in und bei dem blieb, was ihm fünfundsiebzig Jahre lang Normalität, Denk- und Handlungsgewohnheit war.
Wie sagt man im Norden an der Waterkant?: „Junge, wenn Du ein Ziel erreichen willst, dann mußt Du die Nase in den Wind drehen“.
Allerdings: Dabei geht der lieben Stallgeruch verloren.
Hört sich an wie eine Entscheidungs-Alternative, oder?