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522. Nachdenkliches für Manager – Weiße Flecken 7-91

Dienstag, 20. Oktober 2015 | Autor:

Lieber Blog Besucher,

die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.

 

Weiße Flecken
„Also“, sagte Karl Unterberger, „dann bis in vier Wochen“, und wir hoben alle unser Glas und riefen: „Frohen Urlaub und viel Sonne, oder?“
Aber er ging auf diese verdeckte Frage nicht ein, sondern Iächelte verschmitzt und schloss die Tür hinter sich.
Zurück blieb die Spannung, wo er wohl hinfahren würde. Einen tollen Geheimtipp habe er bekommen, absolut sicheres Wetter, absolut unberührte, wunderbare Landschaft, absolut nette Menschen und überhaupt, es würden die Traumferien!
Nur, wo der wundersame Ort Iäge, in welcher Himmelsrichtung, in welchem Land, das, bitteschön, sollten wir doch selber herausbekommen; denn, wenn er weg sei, hätten wir ja genügend Zeit, darüber nachzudenken.
Richtig, er sagte noch, er würde dafür sorgen, dass unsere durch Beruf und Karriere geschädigten Gehirne eine Art Entwicklungshilfe erhielten, das habe er schon äußerst sorgfältig vorbereitet.

Fünf Tage später, am Mittwoch, kam die erste Nachricht von Karl Unterberger. „An die lieben Kolleginnen und Kollegen“, hatte er geschrieben, und als wir die Postkarte umdrehten, waren auf ihr ein paar Grashalme, der Teil eines Baumstammes, das Fragment eines Steines und drei oder vier Quadratzentimeter Himmel zu sehen. Ein Fotomotiv, das keines war, dafür aber vierfarbig.
Wir legten die freundlichen Grüsse ratlos auf die Seite.

Am nächsten Morgen kam wieder eine Sendung, und nach drei oder vier Tagen begriffen wir, dass die ganze Sache System besaß. Unterberger hatte offensichtlich eine Panorama-Aufnahme seines geheimnisvollen Urlaubsortes entsprechend vergrössert, das Bild in postkartenformatgrosse Teile zerschnitten, und nun spielte er mit uns Puzzle.

Genau 24 Tage wollte er bleiben, das bedeutete 24 Ansichtskarten. Wir rechneten aus Länge und Breite das Endformat hoch, machten in der Werbeabteilung eine Pinwand frei und unsere Spannung stieg.

Kollege Clemens Wegner, immer geschäftstüchtig, richtete in seinem Schreibtisch eine Kasse ein und gab bekannt, ab sofort würden Wetten angenommen.

Aber dann passierte der erste Aussetzer. Am 13. Tag blieb Karl Unterberger stumm.
Kein Zeichen von ihm, erst wieder am Tag 14.
Das gleiche an den Tagen 16, 19 und 21. Hatte die Post gestreikt? Waren die fehlenden Teile einem Kleptomanen in die Hände gefallen? War Sabotage von missgünstigen Kollegen im Spiel?

Als Karl Unterberger braungebrannt und frohgelaunt wieder in die Firma kam, nahmen wir ihn stumm an der Hand, führten ihn ins Werbeatelier und konfrontierten ihn mit dem fragmentarischen Opus, in dem exakt und traurigerweise gerade die Teile fehlten, die der optische Schlüssel zum Rätsel zu sein schienen.
Aber er lachte laut und herzlich und sagte, verraten würde er nie, wo er gewesen sei. Wir sollten eben die weissen Flecken durch Intelligenz und Phantasie ersetzen. So schwer wäre das doch wohl nicht.

Bis heute entzieht es sich meiner Kenntnis, wo er damals war, und es macht mir und meinem Ehrgeiz immer noch zu schaffen, dass es so ist. Jeder bunte Reiseprospekt mit der obligatorisch imponierenden Panorama-Aufnahme erinnert mich an Karl Unterbergers Geheimniskrämerei, die schon hart an den Tatbestand der Unkollegialität grenzt, und im Herzen spüre ich dann immer noch einen leisen, unverarbeiteten Ärger.
Warum eigentlich? War nicht das, was ich damals miterlebte, nur eine Erfahrung unter vielen? Eine Variante aus einer ganzen Zahl von sich im Letzten ähnlichen Geschehen?

Wie oft bin ich Menschen begegnet, von denen ich auch nach Jahren noch nicht wusste, wer sie eigentlich waren, weil wesentliche Teile im Puzzle fehlten. Charaktere, die kein Gesamtbild ergeben, weil sie Iückenhaft sind.

Da gab es Personen und Persönlichkeiten, die mir imponierten, weil sie Eigenschaften besaßen, die ich gern gehabt hätte. Und dann kam irgendwann die ernüchternde Entdeckung von blinden Stellen auf ihrer perfekt wirkenden Hochglanzpolitur.

Ich hatte Kontakte mit erfolgreichen, zielstrebigen, führungsbegabten Managern. Aber auf dem Golfplatz waren sie plötzlich ganz andere Menschen als hinter dem Schreibtisch, und abends an der Bar wieder anders, und zuhause erst recht. Sie spielten situationsbezogene Rollen, zwar immer perfekt, aber wer waren sie wirklich?

Und ich selber? Wer bin ich eigentlich?
Da steht in der Bibel, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat. Es gab eine klare Vorstellung. Jeder von uns ist als eine unverwechselbare, originale Persönlichkeit gedacht und angelegt. Aber ich frage mich ernsthaft: Wenn Gott ein Bild davon hat, wer ich einmal werden sollte nach seinem Willen, bin ich dann überhaupt noch erkennbar durch das hindurch, was ich aus mir selber gemacht habe nach meinem Willen?
Ist nicht auch mein Leben ein Fragment geblieben? Mit vielen weissen Stellen?
Was ist mit der Suche nach dem Sinn des Daseins: Ausgespart?
Was ist mit der Frage nach dem Stellenwert Gottes in meiner Existenz: Abhandengekommen?
Was ist mit der Bereitschaft, Jesus Christus Antwort zu geben auf sein Angebot: Verlorengegangen?

Vor vielen Jahren diskutierte ich einmal mit einem klugen, nachdenklichen Mann, ob das Beten noch zeitgerecht und sinnvoll sei. Er sagte mit allem Ernst: „lch falte jeden Tag die Hände und schicke Gott ein Dankgebet. Fast eine Art Gruß an seine Adresse, dass ich ihn nicht vergessen habe.“

Was, wenn Gott das gleiche täte, wie wir damals bei Karl Unterberger? Wenn er eine Wand im Himmel freimachte, so groß, dass für jeden meiner Tage ein Dankeschön und Lebenszeichen Platz hätte? Bis heute, so habe ich ausgerechnet, wären das, seitdem ich verantwortungsvoll denken und reden kann, siebzehntausend Möglichkeiten. Und wie viel weisse Stellen?
Ist das der Grund, warum mein Leben so fragmentarisch ist und warum Gott und ich so grosse Zweifel haben an meiner Identität?

 

Karlheinz Binder

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Thema: Nachgedacht

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