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520. Nachdenkliches für Manager – Geschriebenes 5-91

Dienstag, 20. Oktober 2015 | Autor:

Lieber Blog Besucher,

die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.

 

 

Geschriebenes

„Das ist doch nicht möglich“, sagte Kurt Salzmann zu mir, „Sie waren früher bei der Philipp Schmidt AG? Kennen Sie noch den Werbeleiter Wohlfahrt?“, und als ich nickte, fuhr er fort: „Er ist mein Schwiegervater, ich habe seine jüngste Tochter zur Frau. Wie ist die Welt doch klein. Und das Lustigste: Er ist gerade bei uns hier zu Besuch, wollen Sie ihm mal Guten Tag sagen?“

Wohlfahrt hatte Sich kaum verändert. Noch immer hielt er die Schultern ein wenig schräg, die Lachfalten in seinen Augenwinkeln waren nach wie vor Kontrastprogramm zu seinem breiten, kantigen Kinn, und dieses wiederum waagerecht mildernd unterstrichen durch eine gepunktete Fliege. Aber nie hätten wir es uns erlauben dürfen, dieses Accessoire mit einem so prosaischen Wort zu bezeichnen. Er legte Wert darauf, dass es ein Querbinder sei und nutzte jede Gelegenheit, um wortgewandt und überzeugend zu betonen, Schlipse und deren Träger tendierten in deprimierender Weise zur phantasielosen Durchschnittlichkeit.

Wir schüttelten uns in herzlicher Wiedersehensfreude die Hand, und ich dachte dabei
zurück an meine erste direkte Zusammenarbeit mit ihm.
Wir hatten einem unserer wichtigsten Kunden ein neues Produkt zu demonstrieren. Wohlfahrt stellte die Werbekampagne vor, und ich sprach über das Marketingkonzept. Es war mein erster verkaufsentscheidender Auftritt und ich hatte den Eindruck, alles liefe gut.

Gegen Mittag fuhren wir mit den Besuchern in ein angemessen edles Restaurant in der nahe gelegenen grossen Stadt. Gespräch und Diskussionen setzten sich fort, und dabei kamen Wohlfahrt eine ganze Reihe weiterer Gedanken, was man noch tun und sagen und darstellen könne.
Er schob mit seinem linken Arm alles erreichbare Geschirr auf die Seite, zog den Kugelschreiber und fing an, mit Vehemenz und geübter Hand das Konzept auf der blütenweißen Damast-Tischdecke zu skizzieren.
Als die ihm zur Verfügung stehende Fläche nicht mehr ausreichte, drehten wir mit großem Hallo und vereinten Kräften den runden Tisch um 90 Grad weiter und schufen so die Grundlage für einen ungehindert fortlaufenden Kreativitätsprozess, während der vornehme Oberkellner uns empört schweigend strafende Blicke zuschickte. Erst ein großzügiges Trinkgeld und, unter Vorweisen der Kreditkarte, die verbindliche Zusage, das wertvolle Tuch dürfe und solle selbstverständlich auf die Rechnung gesetzt werden, machten ihn wieder zum friedlichen Menschen, der es sich allerdings nicht verkneifen konnte, uns durch seine Art beim Abschied dezent zu signalisieren, dass er uns für Banausen hielt.

Aus diesem Geschehen begriff ich: Wohlfahrt war einer jener gefürchteten Zeitgenossen, die zwar ständig wertvolle Gedanken, aber nie Papier bei sich haben und deshalb unkonventionelle Wege gehen müssen, um sich und der Nachwelt ihre Einfälle zu erhalten.
In seinem Büro war der glatte Putz aller vier Wände mit Notizen, Skizzen und Daten bedeckt. Da fanden sich Einschaltpreise, Rabatte, Reichweiten der Werbeträger, Adressen von Kunden und Agenturen, Kompositionsentwürfe für Slogans.
Sein Telefon besaß eine extrem lange Zuleitungsschnur, und wenn er mit jemandem sprach, hatte er den notwendigen Aktionsraum, um seinen originellen Datenspeicher zu benutzen.
Alle Versuche, ihn zu einem im Sinne der Zivilisation ordentlichen Menschen zu erziehen, schlugen fehl. Er sagte und hielt dabei den Zeigefinger seiner überaus großen Hand mahnend empor gereckt: „Bis ich Papier gefunden habe, ist die Idee weg. Und im übrigen: Auch Gott hat wichtige Notizen an die Wand geschrieben, falls ihr Grünschnäbel das nicht wisst. Nachzulesen bei Daniel, Kapitel 5.“
Dagegen gab es keine Argumente.

Und dann kam dieser Tag eine Woche später.
Wohlfahrt und ich saßen gerade in meinem Büro zusammen, als der Marketingleiter unseres Kunden anrief. Sein zuständiges Vorstandsmitglied müsse für längere Zeit verreisen, und er habe sehr kurzfristig noch einen Termin. Den könne er nutzen, um eine Entscheidung über unser neues Produkt zu bekommen, aber am Preis müssten wir schon noch etwas tun. Vielleicht so eine Art Einführungsrabatt. Um genau 14 Uhr sei er ausser Haus unter der Telefon-Nummer 8635217 zu erreichen, danach nicht mehr und das bedeute 2 bis 3 Monate Sendepause.

Ich schrieb mir die Nummer auf einen Zettel, klopfte Wohlfahrt mit allem Respekt auf die Schultern, sagte: „Den Auftrag haben wir so gut wie in der Tasche und meldete mich beim Chef an, um das OK zu holen. Als ich in mein Büro zurückkam, war es 5 Minuten vor Zwei. Ich wartete noch ein Weilchen, griff dann zum Hörer und fand den Zettel mit der Telefonnummer nicht wieder. Ich blätterte zwei oder dreimal alle Notizen und Dokumente durch, sichtete mit wachsender Hektik den Inhalt meines Papierkorbes, durchwühlte alle meine Taschen, rannte über den Flur, zwei Stockwerke hinunter und wieder den Gang entlang bis in Wohlfahrts Büro, und mit fast verzweifelter Stimme rief ich:“Die Telefonnummer, ich finde sie nicht wieder!
„ Wohlfahrt streckte mir seine große Faust entgegen, öffnete sie, und quer über die Runen und Linien geschrieben stand: 8635217. Meine Rettung.
„Ich notiere mir immer irgendwo, was wichtig ist•, sagte er, auch wenn ihr anderen die Art und Weise chaotisch findet, aber dabei“, und er zeigte auf seine Hand, „geht wenigstens nichts verloren“.

Ich lächelte, als ich an dieses Geschehen zurückdachte und sagte zu dem alt gewordenen und dennoch so wenig veränderten Wohlfahrt: „Wissen Sie eigentlich, dass Sie immer ein Vorbild für mich waren? Mit Ihrer freundschaftlichen Kollegialität, Ihrem unbekümmerten schöpferischen Denken, dem Mut, Original zu sein“

„Ach, sagen Sie das nicht“, erwiderte er, „mir ist allmählich klar geworden: Jeder von uns ist ersetzbar. Da leben auf dieser Erde ein paar Milliarden Menschen, und ich bin nur einer von ihnen, unwichtig“.
„Nein“, sagte ich, „wissen Sie noch, wie Sie damals angemerkt haben, dass Gott in Sachen König Belsazar eine wichtige Mitteilung an die Wand geschrieben hat? Das war nicht die einzige Notiz, von der wir wissen. Da klagen die Bewohner Jerusalems: Der Herr, unser Gott, hat uns verlassen und vergessen, und Gott antwortet, ich, euer Gott, vergesse euch nicht! Ich habe dich unauslöschlich in meine Hände geschrieben.
Und wenn wir uns noch so unbeachtet, unbedeutend und unbeobachtet vorkommen, auch Gott notiert sich, was ihm wichtig ist, weil er will, dass nichts verloren geht.“

Vielleicht, dachte ich, als wir uns verabschiedet hatten, vielleicht sollte man sich eine solche Aussage Gottes, die Liebeserklärung und zugleich Anmahnung ist, bleibend festhalten? Zuhause an die Wand schreiben?
Oder womöglich sogar hinter die Ohren?

 

Karlheinz Binder

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Thema: Nachgedacht

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