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519. Nachdenkliches für Manager – Das Notizbuch 4-91

Dienstag, 20. Oktober 2015 | Autor:

Lieber Blog Besucher,

die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.

 

 

Das Notizbuch

Die Situation war peinlich.
Wir standen uns gegenüber, Gregor Mahlmann hinter seinem Schreibtisch, eine Hand auf die Platte gestützt, die andere umklammerte die Seitenkante, als wolle er sich und das Möbelstück festhalten, und ich mit dem Aktenkoffer in der Hand frei im Raum.
„Nun ist es also so weit“, sagte er, ohne mich dabei anzusehen. „Ja“, erwiderte ich, und es blieb bei diesem einen Wort.
Seit fünf Jahren leitete er das Unternehmen, und in der Anfangszeit waren wir alle sehr von ihm beeindruckt. Optisch von seiner breitschultrigen Figur mit einem Gardemaß von einem Meter und achtundachtzig Zentimeter, akustisch von seiner volltönenden Bruststimme, deren Variationsbreite vom murmelnden Pianissimo bis hin zum durchdringenden Feldgeschrei reichte.
Vom Start weg hatte er ein enormes Tempo vorgelegt, und alle, die sagten, das würde er nicht lange durchhalten, mußten ihre Meinung revidieren.
Er blieb aktiv, voller Dynamik, steckte Zwölf-, Vierzehnstundentage mühelos weg, und mehrere Male erlebte ich es, daß uns Geschäftspartner beglückwünschten, einen solchen Mann im Konzern zu haben. Im Anfang qualmte er noch Zigarren, zehn oder zwölf am Tag, aber als sich die Ansicht bildete, ein selbstbewußter Mann dürfe unmöglich in aller Öffentlichkeit demonstrieren, daß er die orale Schnullerphase noch immer nicht überwunden habe, hörte er in einem Akt energischer Selbstzucht von einem Tag auf den anderen mit dem Rauchen auf. Und damit wuchs die Schar seiner stillen Bewunderer.
Aber nach rund drei Jahren fing die Firma, die er im Unternehmensverbund leitete, allmählich an zu stagnieren, und dieser Stillstand ging mit wachsender Beschleunigung in einen Abwärtstrend über.
Alarmiert griff die Konzernleitung ein. Die Analyse ergab: Organisatorisch war alles in Ordnung, Märkte wurden gründlich bearbeitet, die Kunden hervorragend betreut, aber sie kauften immer weniger, weil, wie sie sagten, die Konkurrenz den besseren technischen Standard habe und inzwischen auch preiswerter liefere. Mahlmanns Ehrgeiz war es gewesen, Jahr für Jahr mit erstaunlichen Gewinnen Tagesgeschäft zu betreiben, aber er hatte nicht in die Zukunft investiert, keine technischen Entwicklungen vorangebracht, Trends und Märkte nicht beobachtet.
Er und seine Leute hatten vor lauter Tempo das Nachdenken vergessen.
Es kam zu jener denkwürdigen Sitzung des Holding-Vorstandes. Wie bei den Azteken, die nach einer Mißernte ihren Göttern ein Menschenopfer brachten, um sie für die kommende Zeit gnädig zu stimmen, verfuhren die Bestimmenden mit Mahlmann. Trennungsbeschluss.
Nach dieser Konferenz rief mein Chef an, informierte mich über die Sachlage, und nach einer Pause des mutmachenden Luftholens sagte er: „Die Herren haben beschlossen, daß Sie die Firma übernehmen, sanieren und dann so lange weiterführen, bis ein Nachfolger gefunden ist. Ich bin beauftragt, Sie zu fragen, ob Sie bereit sind, diese zusätzliche Belastung auf sich zu nehmen, aber“, und da gab er seiner Stimme einen entschiedenen Klang, „das ist wohl mehr eine Formalie“, und am Ton wußte ich, daß jeder Einwand sinnlos war.
Und nun standen Gregor Mahlmann und ich in seinem Büro, den Wechsel auf der Kommandobrücke zu vollziehen. Ganz unpathetisch, Feierlichkeiten waren wohl auch nicht angebracht.
Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und sagte: Ich wünsche Ihnen viel Glück für diese Aufgabe, mehr als ich hatte, und übrigens, wenn Sie daran interessiert sind, ich habe in meinem Notizbuch noch eine ganze Reihe von Ideen und Überlegungen, was alles getan
werden könnte. Ich bin vor lauter Arbeit nie dazu gekommen, darüber nachzudenken.•

Als ich stumm den Kopf schüttelte, gaben wir uns die Hand. Dann ging er.

Ich setzte mich auf seinen Stuhl, und er tat mir leid. Da hatte einer vor lauter Gegenwart die Zukunft verpaßt. Wenn er, überlegte ich, anstatt fleißig und geräuschvoll zu arbeiten, sich die Zeit genommen hätte, über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken, er säße jetzt noch hinter diesem Schreibtisch.
Aber wir alle tendieren wohl dazu, über dem Alltag das Grundsätzliche, über der Gegenwart die Zukunft, über dem Zeitlichen das Ewige und über der Welt Gott zu vergessen. Da haben wir Notizbuch und Herz voller guter Vorsätze und Absichten, und eines Tages ist es zu spät.
Ich erinnerte mich an den reichen Getreidebauern im Lukas-Evangelium. Der hatte genauso opportunistisch gelebt. Seine Überlegungen waren darauf konzentriert, wie er den momentanen Erfolg sichern konnte, damit er noch lange etwas davon hätte. Seine Scheunen waren voll, sein Konto wohl auch, nur Gott stand nicht auf seiner Rechnung. Der Planungshorizont reichte bis zu den eigenen Schuhspitzen, und das ist zu wenig. Wie, dachte ich, hätte eines fernen und doch so unausweichlichen Tages der himmlische Holding-
Vorstand in seiner alles entscheidenden Sitzung über mich zu urteilen?
Ein zweiter Fall Mahlmann?

 

Karlheinz Binder

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Thema: Nachgedacht

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