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370. Manipulation – Der Geist der Mehrheit

Mittwoch, 29. Mai 2013 | Autor:

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Lieber Blog Besucher,

wer sich einmal ernsthaft Gedanken zu diesem Thema macht, der wird schnell feststellen, dass wir in unserer Zeit auf eine sehr heuchlerische, scheinheilige und hinterlistige Art manipuliert werden. Viele merken es leider nicht, was dazu führen könnte, dass es eine ähnliche Wiederholung wie vor 80 Jahren gibt. Ich hoffe es nicht. Wenn jeder wachsam ist, dann besteht Hoffnung.

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Viel Spaß und Erkenntnis beim lesen des guten Artikels von  Jörg Podworny:

Der Geist der Mehrheit

Der Journalist Harald Martenstein über den Sog der Masse und den politischen Mainstream

Es stimmt nicht immer. Aber oft sind Wahlkampfzeiten spannende Zeiten. Politiker und Parteien steigen oder fallen in der Wählergunst. Politische Standpunkte werden intensiv diskutiert, wenn auch häufig auf griffige Slogans verknappt. Zukunftsfragen, gesellschaftliche und politische Schlüsselthemen gewinnen an Bedeutung und stehen in den Monaten vor einer Wahl weit oben auf der Tagesordnung. In den entscheidenden Wochen werden politische Zukunfts-Konzepte, -Programme und -Schwerpunkte befeuert oder landen (wieder) in der Schublade. Politiker-Karrieren beginnen, starten richtig durch – oder sind jäh wieder beendet. Spannende Zeiten für politisch Interessierte.

 

Eine wichtige Rolle in der Debatte um Politik und Politiker spielen Meinungsumfragen. Wer liegt vorn? Wer ist chancenlos? Wer springt über die Prozenthürden? Welche möglichen Regierungs-Koalitionen kristallisieren sich heraus? Und die öffentlich in den Medien verhandelten Aspekte: Welche Themen werden diskutiert? Wer steht wofür? Wer setzt die inhaltlichen Trends, die mehrheitsfähig sind? Welche Fragen bestimmen wesentlich die politische Debatte um Köpfe und Ideen? Und was denkt die Mehrheit dabei? Stimme ich dem zu? Was ist meine Meinung zu den wichtigen Fragen: Habe ich (m)einen eigenen Standpunkt oder schließe ich mich der Mehrheit an? Oder einer Minderheit?

 

Harald Martenstein hat sich den Ruf eines eigenständigen journalistischen Denkers erworben, der für seine Arbeit schon mehrfach Auszeichnungen bekommen hat; darunter so renommierte wie den „Egon-Erwin-Kisch“- oder den „Henri-Nannen-Preis“. Im vorigen Jahr wurde Martenstein mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet, für einen bemerkenswerten Essay in der ZEIT über den politischen Mainstream.

 

„Er beherrscht Medien, treibt Minister aus dem Amt und wechselt alle paar Jahre die Richtung“, schreibt Martenstein über ihn: „Er ist der Geist der Mehrheit. Aber hat er deshalb recht?“

 

Eine Hymne auf Westerwelle

 

Um zu illustrieren, was er meint, richtet er seinen Blick auf den heutigen Außenminister:

„Vor ein paar Monaten wollte ich unbedingt eine Kolumne über Guido Westerwelle schreiben. Besser gesagt, eine Hymne auf Guido Westerwelle. Ich wollte erklären, warum er ein sehr guter Politiker ist, zumindest einer der besseren in Deutschland. Ich dachte nicht wirklich so. Trotzdem habe ich mir gesagt: Das muss jetzt geschrieben werden. Manchmal schreibe ich Sachen, die ich nicht wirklich denke. Mehr so aus dem Bauch heraus. Wenn alle das Gleiche sagen, bekommt man Lust, dagegenzuhalten. Dann sagt man sich: Alle sind sich einig, hey, da stimmt doch was nicht. Damals haben alle auf Westerwelle herumgehackt. Jeder drittklassige Kabarettist hat Westerwelle-Witze im Programm gehabt, und das kam mir so billig, so vorhersehbar, so ungerecht vor, auch gemein, das hat mich an die Schulzeit erinnert, an diese miesen Momente, in denen alle gemeinsam auf einen Außenseiter losgehen.

 

Die Westerwelle-Kolumne ist nie geschrieben worden. Ich hab’s nicht geschafft. Stattdessen schreibe ich jetzt ein Lob der Reaktanz. Denn mir ist klar geworden, dass ich reaktanzgesteuert bin, zumindest teilweise. Anderen geht es genauso, das habe ich recherchiert. Reaktanz ist eine gute Sache.

 

Den Begriff ‚Reaktanz’ hat 1966 ein gewisser Jack W. Brehm erfunden, ein Sozialpsychologe. Reaktanz bedeutet, vereinfacht gesagt, dass wir Menschen auf eine Überdosis von psychischem Druck oder auch auf Verbote sehr häufig in folgender Weise reagieren: Wir tun genau das Gegenteil von dem, was von uns erwartet wird. Reaktanz ist ein typisches Abwehrverhalten gegen jede Art von Einschränkung, Druck und Verboten.“

 

Das funktioniert in der Bewertung von Schallplatten (wie ein soziologisches Experiment zeigt) genauso wie eben auch in politischen Fragen. Martenstein reagiert reaktant auf derart eingleisige Meinungen: „Wenn alle auf einer bestimmten Person oder Personengruppe herumhacken, werde ich reaktant, tut mir leid. Die Reaktanz ist ein naher Verwandter des Trotzes. Reaktanz ist gut, weil sie eine Einheitsgesellschaft mit Einheitsmeinungen verhindert.“

 

Dabei ist dieses Einheitsverhalten durchaus verständlich: „Wir sind irgendwie Herdentiere“, erklärt der Autor: „Neben der edlen Veranlagung zur Reaktanz, die jeder in sich trägt, gibt es ja auch den Hang zum Konformismus. Unsere Vorfahren haben in Horden gelebt. Ich will dazugehören. Jeder will das.

 

Das Gegenteil von Reaktanz heißt Mainstream. Das Gute am Main-stream ist, dass man nicht groß nachdenken muss. Man wirft sich einfach hinein in den Strom und lässt sich gemütlich treiben.“

So ist es eben, folgert Martenstein:

 

Das Volk

 

Da ist keiner gern allein.

„Der Sozialpsychologe Solomon Asch hat in den fünfziger Jahren ein Experiment gemacht. Es ist ein Klassiker. Versuchspersonen sollen vier verschieden lange Linien miteinander vergleichen. Zwei der Linien sind genau gleich lang. Die dritte und vierte Linie aber haben eine andere Länge – extrem anders. Man sieht es sofort.

 

Die Frage an die Versuchsperson lautet: ‚Welche beiden Linien sind gleich lang?’

 

Diese Frage soll in Anwesenheit anderer beantwortet werden, in einer größeren Gruppe. Die Versuchsperson ahnt nicht, dass alle anderen Mitglieder der Gruppe mit dem Testleiter zusammenarbeiten. Die eingeweihten Gruppenmitglieder geben alle eine falsche Antwort. Alle. Diese Antwort, wie gesagt, ist so grotesk falsch, dass selbst ein fünfjähriges Kind das merken muss. Drei Viertel der Versuchspersonen schließen sich, im Durchschnitt, trotzdem der falschen Antwort an. Nur ein Viertel hat den Mut, den eigenen Augen mehr zu trauen als der Gruppe. Die anderen denken vielleicht, dass mit ihren Augen etwas nicht stimmt. Oder sie wollen nicht unangenehm auffallen.

 

Das Experiment ist oft wiederholt worden, es kommt immer das Gleiche heraus. Man kann die meisten Leute dazu bringen, öffentlich zu erklären, dass eins plus eins drei ergibt. Kein Problem. Es müssen ihnen nur genügend andere Leute dabei Gesellschaft leisten.“

 

Was das für die politische Meinungsbildung bedeutet, liegt nahe. Martenstein führt das aus:

 

„In den fünfziger Jahren, in denen ich geboren wurde, dachte fast jeder, dass Deutschland die im Krieg verlorenen Ostgebiete auf keinen Fall aufgeben dürfe, dass Frauen nur in Ausnahmefällen arbeiten gehen sollten, dass Homosexualität eine Perversion sei, über die man am besten nicht spricht, dass es tausend wichtigere Dinge gebe als Umweltschutz. Heute denkt fast jeder in diesen Fragen ungefähr das Gegenteil. Auch ich denke das Gegenteil.

 

Ich denke ziemlich genau das Gegenteil von dem, was meine Großeltern gedacht haben, die allerdings, in ihrer Zeit, völlig normal waren, mit anderen Worten: Mainstream.“

 

Die Verfallszeit der Mehrheitsmeinung wechselt, aber es gibt im öffentlichen Diskurs keine immer gültigen Wahrheiten:

 

„In 50 Jahren schütteln die Menschen vielleicht die Köpfe über unsere Angst vor der Klimakatastrophe. Vielleicht bleibt sie ja aus, so wie auch das große Baumsterben ausgeblieben ist. Ich behaupte nicht, dass es so kommt. Aber eines weiß ich nun wirklich genau: Sehr viele Gewissheiten jeder Epoche der Geschichte haben sich im Nachhinein als falsch herausgestellt.“

 

Wenn das aber so ist, fragt Martenstein sich:

 

„Was wird zum Mainstream? Wer bestimmt das? Die Medien? Einer schreibt vom anderen ab, ist es so einfach? Erschafft sich der Mainstream, ab einem gewissen Punkt, sozusagen selber?

 

Weil ich seit längerer Zeit in den Medien arbeite, glaube ich, sie einigermaßen zu durchschauen. Es gibt keine geheimen Verschwörungen, so wenig, wie es gezielte Kampagnen gegen einzelne Politiker gibt. Es stimmt, dass es einem manchmal so vorkommt – fast alle schreiben das Gleiche. Alle sind gegen Westerwelle und gegen Kernkraft, alle waren für Klinsmann. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen ungern alleine dastehen. Sie möchten Erfolg haben und geliebt werden. Das gilt auch für Journalisten. Im Mainstream ist man sicher. Die meisten Medien spiegeln folglich den Mainstream wider und verstärken ihn dadurch noch, aber sie erschaffen ihn nicht.“

 

Ein Schlüsselwort in diesem Verhalten ist:

 

Der Schwarm

 

„Kaum ein Begriff hat in den Jahren, die seit meiner Kindheit verstrichen sind, eine solche Karriere gemacht wie ‚Schwarmintelligenz’. Das Internet funktioniert wie ein Schwarm, heißt es. Die Revolutionen in den arabischen Staaten wurden und werden über die schwarmförmige Organisation Facebook organisiert, ohne Anführer, ohne eine Partei.

 

Alle bewegen sich plötzlich in dieselbe Richtung wie ihre Nachbarn.“

 

Mit Folgen auch im politischen Leben, so folgert Martenstein:

 

„Ich glaube, dass die Gesetze der Schwarmintelligenz auch das politische Leben zu beherrschen beginnen. Das beste Beispiel ist die Bundeskanzlerin. Zu Recht wird gesagt, dass Angela Merkel für einen Stil des Regierens steht, den es vor ihr in Deutschland nicht gegeben hat.

 

Die Traditionen und Grundsätze ihrer Partei scheinen für sie keine Rolle zu spielen. Angela Merkel setzt Volksstimmungen um, sie ist keine Leitwölfin, eher ein Fisch im Schwarm. Sie lässt sich, wo immer und solange es geht, in der Strömung treiben. Als das Volk nach Fukushima die Atomkraft ablehnte, war bekanntlich auch Frau Merkel, die eben noch die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängert hatte, plötzlich für die Abschaltung der Atommeiler. Und jetzt, wo die Sozialdemokraten wieder erstarken, fällt ihr ein, dass der Mindestlohn, den die CDU vor Kurzem noch verteufelt hat, eine feine Sache ist. Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts, vermeide Zusammenstöße, bewege dich in dieselbe Richtung wie die Mehrheit.“

 

Auch über Parteien und politische Personen hinaus beobachtet Martenstein diese Tendenz:

 

„Manchmal habe ich den Eindruck, dass Deutschland von einer Einheitspartei neuen Typs beherrscht wird, der Mainstreampartei. Diese Partei ist ökologisch, für einen höheren Bildungsetat, für Frauenquoten, für Klimaschutz, für Umverteilung des Wohlstands, dafür, dass die hier lebenden Ausländer Deutsch lernen … Konsens, wohin man schaut.“

 

In solch einer Lage braucht es „Querdenker“, findet der Autor, Leute, die auch mal auf den Mainstream pfeifen. Schwierig wird es mit der allgemeinen Bewertung:

 

„Der Medientheoretiker Norbert Bolz schreibt, dass die meisten Leute die Ansichten übernehmen, von denen sie glauben, dass die meisten anderen Leute sie auch haben. Darüber, welche Meinung gerade die allgemein übliche ist, informieren die Massenmedien. Die Meinungsmacher dort sind aber auch nur Leute wie alle anderen. Sie tendieren dazu, die Meinungen und die Themen anderer Meinungsmacher zu übernehmen …“

 

Die Folgerung:

„Weil der Mainstream heute die normative Rolle übernommen hat, die früher von Traditionen und Sittengesetzen gespielt wurde, tendiert man dazu, vom Mainstream abweichende Meinungen als unmoralisch zu verurteilen.“

 

Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, stimmt Martenstein ein Lob an, das

 

Lob der Reaktanz

 

„Ohne Reaktanz läuft ‚Demokratie’ auf eine massenpsychologische Zwangsherrschaft des Einheitsdenkens hinaus. Reaktanz ist die Kraft, die dafür sorgt, dass ein Meinungspendel nach einer gewissen Zeit wieder zurückschwingt.

 

Als Reaktist erfüllt man eine sozialhygienische Funktion und leistet einen Dienst an der Menschlichkeit. Es ist unappetitlich, wenn einzelne Personen zum public enemy erklärt werden, überall, von jedem. Guttenberg? Eva Herman? Jan Ullrich? Das sind Verfehlungen gewesen, kritikwürdig, gegebenenfalls strafbar, aber doch keine Kapitalverbrechen.

 

Wenn erst mal der nächste Skandal da ist, absorbiert er sowieso die gesamte Erregungsenergie, über die man verfügt.

Und Margot Käßmann? Der umgekehrte Fall. Eine Heilige. Da ist Reaktanz ebenfalls angebracht. Der dunkle Trieb, Idole schlechtzumachen, hat ebenfalls etwas mit Reaktanz zu tun. Das ist die Nachtseite der Reaktanz.“

 

Und Martenstein fügt noch einen Vorschlag an:

„Es müsste, im Mainstream-Medium Fernsehen, eine Sendung geben, eine einzige, die der Reaktanz verpflichtet ist. Einmal pro Woche, 30 Minuten lang, müsste jemand einer von fast allen geglaubten Wahrheit widersprechen, oder eine abseitige Meinung äußern, oder den aktuellen public enemy verteidigen. Ohne Ironie. Ohne einen Moderator, der sich distanziert. Auch das wäre ein interessantes Experiment.“

 

In diesem Sinne: Gönnen Sie sich eine eigene Meinung!

Ohne sich zu sehr auf einen „Publikumsjoker“ wie bei „Wer wird Millionär“ zu verlassen.

 

Martenstein schreibt: „Bei einfachen Fragen ist der Publikumsjoker fast immer eine sichere Sache. Aber je komplizierter es wird, desto öfter irrt sich die Mehrheit. Es ist dann klüger, jemanden anzurufen, der Ahnung hat. Eine Einzelperson.“

 

Quelle – EINS 2/2013

Artikel: Jörg Podworny

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Thema: Zeitgeist

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