501. Nachdenkliches für Manager – Auslieferung 6-89
Dienstag, 20. Oktober 2015 | Autor: intern
Lieber Blog Besucher,
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Auslieferung
„Bärwald möchte Sie sprechen, in einer ganz persönlichen Angelegenheit“, rief mir meine Sekretärin zu, als ich von der Mittagspause zurückkam: „lrgendwie sah er nervös aus“, ergänzte sie, bevor ich meine Bürotür hinter mir zumachte.
Was konnte er auf dem Herzen haben? In sieben Monaten würde er 65 Jahre alt. Wahrscheinlich, überlegte ich, wollte er schon jetzt die Formalitäten und Feierlichkeiten seiner Verabschiedung mit mir besprechen. Das musste es wohl sein. Es entsprach auch seiner Mentalität, solche Dinge frühzeitig zu regeln. Er war schon immer ein vorausschauender, langfristig denkender Logiker gewesen. Gründlich, gewissenhaft und engagiert für seine Arbeit bis zur Selbstentäußerung.
Auf einem Zettel machte ich mir erste Notizen: Wen wir einladen sollten, wer reden würde, was ich an Unterlagen für meine eigene Ansprache brauchte, welche besonderen Eigenschaften hervorzuheben waren, in welchem Rahmen das alles stattfinden könnte, und dann rief ich ihn.
Er saß mir gegenüber, wirkte leicht verkrampft, und an seinem innerlichen Luftholen merkte ich, dass meine Überlegungen falsch waren. Da gab es etwas anderes. Ich schob meine Notizen auf die Seite und blickte ihn aufmunternd an.
„Sie wissen“, sagte er langsam und nachdenklich, „dass der Beruf immer einen hohen Stellenwert in meinem Leben eingenommen hat.“
Ich nickte.
“In knapp einem dreiviertel Jahr gehe ich in Pension, müsste ich in Pension gehen, und da wollte ich Sie fragen, ob wir diesen Zeitpunkt nicht doch um ein oder anderthalb Jahre verschieben könnten, bis ich mich an den Gedanken gewöhnt habe.“
Ich sah ihn verblüfft an: „Sie kennen den Termin doch schon lange. Warum ist ein so gewissenhafter Mensch wie Sie dann nicht vorbereitet?“
Er wich meinen Augen aus: „Gut“, sagte er, „dann muß ich Ihnen wohl die Wahrheit sagen. Ich habe Angst, ganz einfach Angst, verstehen Sie? Wenn man sich sein ganzes Berufsleben lang an einen festen Rhythmus gewöhnt hat, muß man sich wie aus den Gleisen geworfen fühlen. Wie wird es sein, wenn mich plötzlich keiner mehr braucht? Zugegeben: Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die habe ich mir schon lange vorgenommen. Viel fotografieren, viel lesen, danach sehne ich mich richtig. Aber wenn Sie jeden Tag drei Filme voll knipsen können und lesen, so viel wie sie wollen, dann wird das alles ganz schnell langweilig. Das kann doch ein Leben nicht ausfüllen“, und dabei machte er ein richtig verzweifeltes Gesicht, aber ich ahnte: Das war nicht der Kern seiner Bitte, da war noch etwas anderes, und ich sagte ihm das. Er wurde ganz still und ich konnte förmlich spüren, wie er mit sich kämpfte. Dann sah er mich entschlossen an: „lch habe Angst vor dem Alleinsein mit meiner Frau. Wir haben, und das ist wohl meine Schuld, die Basis miteinander verloren, schon seit Jahren. Ich hatte meinen Beruf. Meine Frau die Kinder und später, als die groß waren, kamen die Enkel, und dabei sind wir immer weiter auseinandergedriftet. Natürlich merkten wir das, aber im Anfang war es mir noch nicht einmal so unrecht. Irgendwie kompensierte das mein schlechtes Gewissen der Familie gegenüber. Ich sagte mir: Wir haben so eine Art stille Arbeitsteilung gefunden, jeder zum Wohl aller, und außerdem war ich der Meinung, das alles ließe sich zu jeder Zeit und ganz einfach wieder ins Lot bringen. Aber in den letzten Monaten ist mir deutlich geworden, wie sehr jeder von uns beiden inzwischen in sich abgeschlossen lebt. Was uns noch in der Balance hält, ist eine Art stumpfe, schmerzlose Gleichgültigkeit. Vom Tag meiner Pensionierung an sind wir uns in gewisser Weise gegenseitig ausgeliefert, wissen Sie was das heißt?“
Ich stützte den Kopf in die Hand, um meine Betroffenheit zu verbergen, und schloß für einen Moment nachdenklich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war Bärwald leise gegangen.
Am Sonntag fand bei uns in der Kirche mitten im Gottesdienst eine Trauung statt. Und als der Pfarrer den jungen Ehemann fragte: „Willst Du mit ihr nach Gottes Geboten leben, sie lieben und ehren, und willst Du im Vertrauen auf Jesus Christus ihr in Freud und Leid die Treue halten, bis Gott durch den Tod Euch scheidet, so antworte: Ja“, da ging es mir durch und durch.
War ich so viel anders als Bärwald?
Karlheinz Binder