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478. Nachdenkliches für Manager – Metamorphose 4-97

Montag, 19. Oktober 2015 | Autor:

Lieber Blog Besucher,

die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.

 

 

Metamorphose

„Hier gleich rechts um die Ecke müßte es sein“, sagte Weber zu mir und studierte seinen Zettel mit der Wegbeschreibung.
Es stimmte. Nach knapp zwanzig Schritten standen wir vor der Tür des kleinen Lokals, das Ulrich Wiegand, unser Gastgeber, als Geheimtip angepriesen hatte, mitten in der Kölner Altstadt.

Wiegand war schon da, zusammen mit seinen beiden Prokuristen. Sie geleiteten uns zum bestellten Platz, gaben dem Ober das internationale Zeichen „Bier marsch“ und kaum hatten wir uns niedergelassen, standen schon fünf Kölsch in diesen griffigen Stangengläsern vor uns auf der fast monumentalen Tischplatte, sechs Zentimeter stark aus massiver Kiefer, widerstandsfähig selbst gegen den leidenschaftlichsten Grand mit Vieren und unter uns vertrauenerweckende Stühle mit mindestens zehnfacher statischer Sicherheit gegen Höchstbelastungen.

Die Gläser bis kurz unter Augenhöhe gelupft, blickten wir uns über den so geschaffenen Horizont lächelnd an, riefen „Prost“, ergänzt durch das obligatorische „Ah“ nach dem ersten, tiefen Zug und wir wußten: Das würde ein fröhlicher Abend in dieser urigen, heimeligen Kneipe, so ganz ohne verkrampft nachgemachte Rustikalität, mit dem dicken, gemütlichen Wirt hinter den sorgsam polierten Messing-Zapfhähnen und dem appetitmachenden Duft von meisterhaften Bratkartoffeln in der Luft.

Es dauerte keine fünfzehn Minuten, da war das Lokal proppenvoll. Nur am Tisch neben uns, ganz verloren umringt von vier leeren Stühlen, stand ein einsames Schild „Reserviert“. Aber als wir gerade bei der dritten oder vierten Runde Kölsch saßen, gespannt auf das Essen warteten, ging die Tür auf, drei Japaner kamen herein, wie dem edelsten Herrenjournal für gediegene Managermode entstiegen, dunkelblaue Maßarbeit, seidene Krawatten, weit jenseits der Hundertmarkgrenze. Der Ober führte sie zu ihren reservierten Plätzen, sie machten eine leichte Verbeugung zu uns herüber, genau abgewogen, nicht zu tief und nicht zu knapp und dann setzten sie sich, bestellten noch nichts, warteten offensichtlich. Endlich kam der für den vierten Stuhl Bestimmte. Die drei standen auf, neigten ihre Oberkörper sehr viel tiefer als vor uns und wir wußten: Das ist der Boß. Sie blieben, noch immer leicht verbeugt so lange stehen, bis er sich gesetzt hatte und dann nahmen auch sie wieder Platz.
Die Unterhaltung war sehr einsilbig. Jeder der drei Untergebenen sprach nur, wenn der vierte ihn anredete. Zeremoniell, geprägt durch tausend Jahre Tradition.

Der Ober ging zu ihnen und fragte was es denn bitteschön zu trinken sein solle und der Oberste von ihnen bat im fernöstlichen Englisch um seine Empfehlung. Die Antwort „Kölsch“ wurde nicht sofort begriffen, aber der Wirt an der Theke griff sich entschlossen vier Gläser, schenkte ein, brachte sie herüber, der japanische Sprecher nahm sein Glas, setzte an und als er es zu unserer Verblüffung leer wieder hinstellte, sagte er „Ah“. Und die drei anderen taten desgleichen. Unter sofortiger Nachbestellung..

Wir fünf germanischen Geschäftsfreunde konzentrierten uns wieder auf uns selber, setzten die eigenen, lebhaften Gespräche fort und im Laufe des Abends mußten wir immer lauter reden, denn am Nebentisch nahm Revolutionäres seinen Anfang und Lauf. Die sich mehrenden Runden verursachten eine Art zweiten Sturm auf die Zwingburg Bastille, sie schleiften gewissermaßen die Mauern der Hierarchie, Reputation und Verhaltenszwänge und bahnten den Weg zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Unsere Nachbarn nickten sich lachend zu, schüttelten mit wechselnder Beteiligung gegenseitig Hände als eine Art europäischer Bekräftigung japanischer Übereinstimmung. Sie redeten eifrig durcheinander, jeder mit jedem, alle zugleich und verstanden sich großartig.
Als sie dann zu später Stunde gingen, ausgelassen, gestikulierend, sorglich gestützt von den kräftigen Kellner, kam uns plötzlich das Lokal still und nahezu verlassen vor.
Wie werden, überlegte ich, die so netten Japaner sich in ein paar Stunden beim Frühstück begegnen? Immer noch mit einem freunschaftlich verstehenden Lächeln im Blick? Oder wieder distanziert? Zurückgepreßt in ihre statusdiktierten Rollen mit zwei Seelen in der Brust?

Was verhindert eigentlich unsere wesenhafte Wahrhaftigkeit? Warum zerfallen wir auf nahezu schizophrene Weise in Amtsperson und Mensch, in Geschäftsmann und Familienvater, in Manager und Christ?

Warum eigentlich braucht es bei manchen Menschen erst nullkommaacht bis einskommasechs Promille um erkennbar zu machen, daß sie nicht nur aus kontrollierten Funktionen, sondern auch aus Gefühlen bestehen, nicht nur aus Kopf, sondern auch aus Herz, nicht nur aus Rollenverhalten, sondern aus lebendiger Individualität?

Wo sind die Mutigen, bei denen Innen und Außen, Wollen und Handeln übereinstimmen? Wo sind sie, die Wahrhaftigen, bei denen Anspruch und Wirklichkeit sich decken? Wo sind sie, die Zuverlässigen, bei denen ein Ja nicht nur ein bedingtes ist? Wo sind sie, die Menschen, die nicht opportunistisch in die jeweilige Rolle kriechen, sondern Charakterfestigkeit haben? Wo sind sie, die Tapferen, die ihren Glauben an Gott mitten im Alltag, mitten in ihren Berufen erkennbar leben? Die nicht im seltsamen Gespaltensein destruktives Beispiel für ein Leben in mehreren Welten sind, situationsbedingt mit wechselnder Staatsbürgerschaft.

Da berichtet der Apostel Johannes von Verantwortungsträgern aus der Hauptstadt Jerusalem: „In der Gesellschaft gab es viele führende Leute, die an Jesus Christus glaubten, aber aus Furcht vor den tonangebenden Pharisäern bekannten sie es nicht. Die Anerkennung durch die Menschen war ihnen wichtiger als die Ehre bei Gott“. Auch hier schizoides Rollenspiel?
Und wieviel Gläser braucht es bei Ihnen, bis Sie der sind, der Sie sind?

Karlheinz Binder

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Thema: Nachgedacht

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