212. Der Begriff Endzeit
Donnerstag, 20. Januar 2011 | Autor: intern
NAI
Der Begriff Endzeit
Im frühen Judentum gab es eine zweifache Auffassung von Zeit:
1. Eine kalendarisch messbare Zeit, die Zeit des sichtbaren Naturablaufs und der erlebten Geschichte und
2. eine überirdisch herrschende Zeit der Gottesdienstordnung mit dem Schabbatzyklus und dem Festkalender mit seinen Siebenerperioden.
Der Begriff Endzeit
Ungeachtet dieses in sich zyklisch geordneten Zeit- und Geschichtsverlaufes besteht eine biblisch-jüdische Tradition, die besagt, dass der gesamte Zeitprozess auf ein bestimmtes Ziel zuläuft. Bereits vom babylonischen Exil an (ab 586 v. Chr.) befassten sich Juden mit den letzten Dingen (hebr.: kez-hajamim; griechisch: eschaton), weshalb die zeitliche Erforschung der in Erfüllung gehenden Verheißungen Eschatologie genannt wird.
Die Endzeiterwartung war keine Eigentümlichkeit der Juden, denn in der gesamten Spätantike gab es Zukunftserwartungen mehr oder minder phantastischer Art.
Juden und Christen verband dagegen die Endzeit mit der Naherwartung des kommenden Messias bzw. des wiederkommenden Christus und mit dem Beginn eines „goldenen Zeitalters“ bzw. mit der „Trübsal“, dem Gottesgericht über eine von Gott abgefallene Menschheit.
Das Besondere der jüdischen Eschatologie besteht in der Annahme, dass der Geschichtsablauf von Israels Erfüllung seiner Erwählungsverpflichtung – der Thora – abhängt, im Sinne von Gehorsam und Ungehorsam.
Nach dem Untergang der Reiche Israel (722 v. Chr.) und Juda (586 v. Chr.) verdichteten sich die Zukunftshoffnungen auf eine Wende zum Heil, deren Bestimmung ein Gegenstand ständiger Spekulationen und Berechnungsversuche darstellte. Naturkatastrophen und große politisch-militärische Ereignisse, die den bevorstehenden Untergang bestehender Ordnungen und antigöttlicher Mächte andeuteten, haben immer wieder zur Annahme verleitet, der endzeitliche Termin sei gekommen.
In Krisenzeiten kam es daher regelmäßig zu akuten Endzeiterwartungen, die literarisch zu verschiedenen Apokalypsen und zu pseudo-messianischen Bewegungen führten. Über 100 solcher Termine sind im Laufe der jüdischen Geschichte nachweisbar.
Auch in der Gegenwart bestimmt das Grundkonzept der auf die Endzeit ausgerichteten Geschichtsauffassung, mit dem vermeintlichen Zwang zur endgültigen Verwirklichung der Gottesherrschaft durch das jüdische Volk im Land Israel, zu einem nicht geringen Teil das Geschehen im Nahen Osten.
Zur lehrmäßigen Ausgestaltung der jüdischen Eschatologie gehört die Erwartung eines Idealkönigs aus dem Hause Davids, des Messias, ferner die Restauration biblischer Verhältnisse mit einem neuen Tempel in Jerusalem auf dem biblischen Tempelplatz und die Einsammlung der Juden aus der Diaspora inklusive der Israeliten aus dem Zehn-Stämme-Reich.
Das Neben- und Miteinander, einerseits von heilsgeschichtlichen, auf das irdische Israel ausgerichteten und andererseits von kosmologisch-universalen Endzeiterwartungen, hat immer wieder zu Verquickungen geführt.
So interpretieren die Einen alles auf die zukünftige himmlische Welt und die Anderen sehen in den Endzeitverheißungen Dinge, die für unsere Zeit hier auf Erden bestimmt sind. So nennt man die irdisch und zeitlich begrenzte Heilszeit „Tage des Messias“ und den endgültigen Heilszustand die „Kommende Welt“.
In der Zeit der Aufklärung und Emanzipation hat man die endzeitlichen Aussagen der Bibel zu symbolischen und ethischen Metaphern abgewertet. Das Reformjudentum ging sogar soweit, die messianische Erfüllung mit dem moralischen Fortschritt der Menschheit zu identifizieren, was jedoch durch die Kriege und Perversität unserer Zeit widerlegt wird.
In den orthodoxen Kreisen blieb dagegen die traditionelle Hoffnung auf das tatsächliche Kommen des Messias lebendig. Durch die Einwanderung der Juden ins Land Israel erhielt die jüdische Endzeiterwartung eine reale Machtbasis, weshalb die religiösen Juden von den bereits sichtbaren „Fußspuren des Messias“ sprechen.
Nicht nur die Heimkehr der Juden nach Zion und die Urbarmachung der Wüste und der Wiederaufbau der zerstörten biblischen Städte, sondern auch Israels Einzug in die Altstadt Jerusalems beweisen trotz der daraus entstandenen politischen Problematik, dass die Verheißung Gottes, dass dieses Land dem jüdischen Volk gehört, eines der wichtigsten Zeichen der jüdischen Eschatologie ist, denn vor dem Kommen des Messias muss die Endzeitverheißung aus Hesekiel 36,24 in Erfüllung gehen: „Ich werde euch aus den Heidenvölkern herausholen und euch wieder in euer Land zurückbringen“ – und genau das geschieht!
NAI Ludwig Schneider