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63. Arbeitslos….

Samstag, 2. Januar 2010 | Autor:

Eine Herausforderung für Christen und Gemeinden

Kaum ein Problem ist zurzeit in unserer Gesellschaft so aktuell und belastend wie das der Arbeitslosigkeit. Kaum ein Stein scheint augenblicklich auf dem anderen zu bleiben. Banken und Versicherungen knicken ein, große Unternehmen brauchen Staatshilfe, der Export bricht weg, mindestens die Kurzarbeit droht. Sicher geglaubte Arbeitsstellen werden wegrationalisiert, Produktionsorte (nicht immer) aus Kostengründen ins Ausland verlegt, mittelständische (Zuliefer-) Betriebe müssen Insolvenz anmelden, Firmen sind dem finanziellen Druck nicht mehr gewachsen …
Auch Christen sind herausgefordert. Wir haben kein Recht, uns abzuwenden, so als ginge uns das alles nichts an (sofern wir nicht selber betroffen sind). Unsere Gottgegebene Platzanweisung ist mitten in der Welt, nicht eine Insel der Seligen, auf der uns die Sorgen der Menschen nicht be-rühren. Schon gar nicht haben wir ein Recht zu solcher Haltung, wenn wir selbst Arbeit haben und nicht betroffen sind. In Verbindung mit dem Poli-tischen Arbeitskreis der Deutschen Evangelischen Allianz hat der Wirt-schaftswissenschaftler Dr. Hermann Sautter eine Stellungnahme erarbeitet, mit einer praxisnahen Analyse der Problematik, die vom Hauptvorstand der Evangelischen Allianz verabschiedet wurde. Sie will Christen und Gemeinden konkrete Anregungen geben.

Quelle ead

 

EiNS druckt wichtige Abschnitte:

Michael, Heinz und Alexandra

Arbeitslos zu sein, bedeutet nicht immer dasselbe. Manchmal ist einer nur wenige Wochen oder Monate ohne eine bezahlte Beschäftigung. Andere finden jahrelang keine Stelle. Für den einen ist „Arbeitslosigkeit“ der problemlose Übergang von einem Beschäftigungsverhältnis in ein anderes. Andere leiden unter der wiederholten Erfahrung, mit ihren Fähigkeiten und Kenntnissen nicht gebraucht zu werden. Die persönlichen Erfahrungen Arbeitsloser können also sehr unterschiedlich sein.

Einige Beispiele:

Michael (33), gelernter Galvaniseur. In Feierabendkursen hat er sich auf die Meisterprüfung vorbereitet. Nach erfolgreich bestandener Prüfung war er noch einige Jahre in seiner alten Firma tätig, einem Zulieferer der Auto-industrie. Dann nahm er eine „Auszeit“. Er wollte sich neu orientieren. Zwei Monate lang war er arbeitslos. Danach genügten einige Telefonespräche, um eine neue Stelle zu bekommen. Leute wie er – das ist seine Erfahrung – werden überall gesucht.

Heinz (53) ist Diplomingenieur, verheiratet und Vater von zwei schulpflichtigen Kindern. Er war unter den 800 Personen, die seine Firma in einer schweren Absatzkrise entlassen hat. Er schrieb eine Bewerbung nach der anderen. Mehrfach wurde er zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, aber jedes Mal bekam ein anderer den Zuschlag. Die 205. Bewerbung brachte schließlich Erfolg: Umzug von Nord nach Süddeutschland, Verkauf der Eigentumswohnung, Umschulung der Kinder. Es war nicht einfach. Aber er ist froh, wieder in seinem Beruf arbeiten zu können.

Sascha (22) hat keinen Beruf erlernt. Er ist bei seiner Mutter aufgewachsen, die von Sozialhilfe lebt. Seinen leiblichen Vater hat er nie gesehen. In der Schule gab es immer Schwierigkeiten. Den Hauptschulabschluss hat er nur mühsam geschafft. Nach langem Suchen bekam er einen Ausbildungsvertrag bei einem Bäcker. Drei Monate später brach er die Ausbildung ab. Seitdem ist er arbeitslos.

Harald (33) ist gelernter Elektriker. Nach seiner Ausbildungszeit hat er bei fünf verschiedenen Firmen gearbeitet. Immer gab es Ärger mit dem Chef. Seine letzte Stelle hat er verloren, weil der Betrieb reorganisiert wurde. Harald hat kein großes Interesse, bald wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Er wohnt bei seiner Mutter. Sie bezieht Rente, er „Hartz IV“.
Im Haus und Garten gibt es viel zu tun, und die Nachbarn sind immer dankbar, wenn er ihnen (gegen ordentliches Taschengeld) bei Reparaturen hilft. Dass dies Schwarzarbeit ist, stört ihn nicht.

Alexandra (42) war in der Verwaltung eines volkseigenen Betriebes der DDR beschäftigt. Nach der Wende wurde der Betrieb vom früheren Besitzer übernommen. Es gab Absatzschwierigkeiten. Zwei Drittel der Belegschaft wurden entlassen, auch Alexandra. Derzeit macht sie eine Umschulung, die vom Arbeitsamt finanziert wird.

Problemgruppen

Jede dieser persönlichen Erfahrungen steht für sich selbst. Aber sie reprä-sentieren zugleich typische Problemgruppen.

Eine erste Gruppe umfasst Personen, die nur kurzfristig ohne Beschäftigung sind. Oft finden sie auch ohne die Vermittlung durch eine Arbeitsagentur innerhalb von Tagen, Wochen oder Monaten eine neue Stelle. Sie gelten als „nicht vermittlungsbedürftig“. Es wird geschätzt, dass etwa 20–30% der arbeitslos Gemeldeten dazu gehören.

Eine zweite Gruppe besteht aus Personen, die als „vermittlungsbedürftig“ und „vermittelbar“ gelten. Sie sind zwar auf die Vermittlung durch eine Arbeitsagentur angewiesen, doch ihre Qualifikation gibt ihnen durchaus eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Man schätzt, dass etwa 30 % der Arbeitslosen zu dieser Gruppe gehören.

Zu einer dritten Gruppe gehören die „schwer vermittelbaren“ Arbeitslosen. Beispiele dafür sind: Ältere Personen, für deren Qualifikation keine Nachfrage mehr besteht, und die sich nicht mehr neu qualifizieren können (oder wollen); Personen ohne abgeschlos-sene Schulbildung, die keine Berufsausbildung durchlaufen haben; Menschen ausländischer Herkunft ohne berufliche Ausbildung und mit geringen Kenntnissen der deutschen Sprache; gesundheitlich beeinträchtigte Personen. Es wird geschätzt, dass diese Gruppe etwa 25–30% der registrierten Arbeitslosen umfasst.

Eine vierte Gruppe bilden diejenigen, die nicht ernsthaft an einem Arbeitsplatz interessiert sind, und bei denen alle Vermittlungsversuche ins Leere stoßen. Dazu gehören beispielsweise Personen, die für immer oder vorübergehend aus dem Erwerbsleben ausscheiden, sich aber so lange wie möglich Zahlungsansprüche sichern wollen; für die sich eine Erwerbsarbeit nicht lohnt, weil ihr Einkommen gepfändet ist oder weil sie hohe Unterhalts-zahlungen leisten müssen, oder die einfach nicht regelmäßig für einen „Arbeitgeber“ tätig sein wollen. Man schätzt, dass etwa 15–20% der registrierten Arbeitslosen dazu gehören. Des Weiteren gibt es eine große Gruppe von Personen, die keine bezahlte Beschäftigung ausüben und sich in staatlich finanzierten Fortbildungs-, Arbeitsbeschaffungs- und ähnlichen Maßnahmen befinden. Sie werden nicht in der offiziellen Arbeitslosenstatistik geführt.

Quelle ead

 

Ursachen, Mittel und Wege

Die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik hat viele Ursachen, die hier nur kurz genannt werden können. Dazu gehören: Technologische Entwicklungen, die zunehmende internationale Verflechtung der Märkte („Globalisierung“) und eine unzureichende Anpassung an die dadurch ausgelösten Änderungen. Wie können Christen und Gemeinden helfen? Sie können beispielhaft wahrhaftig leben, sich nicht von dem Slogan „Der Ehrliche ist der Dumme“ einfangen lassen. Sie können Selbständigkeit lernen und die Verabsolutierung der Erwerbsarbeit überwinden. Und sie können solidarisch helfen. Das menschliche Problem der Arbeitslosigkeit ist vielschichtig. Zum Verlust der Erwerbsarbeit und dem damit verbundenen Einkommen treten sehr häufig der Verlust an Selbstachtung und an gesell-schaftlicher Anerkennung sowie der Zweifel am Sinn des eigenen Lebens. Die wirtschaftlichen Folgen der Arbeitslosigkeit lassen sich in der Regel nicht auf privater Ebene ausgleichen; die seelischen Folgen schon. Für einen Arbeitslosen ist es von unschätzbarem Wert, wenn er in eine menschliche Gemeinschaft integriert ist, in der er seine Probleme offen aussprechen kann, in der er Verständnis und Rat findet, und die ihm seine Selbstzweifel überwinden hilft. Dies zu bieten, ist eine große Herausforderung für christliche Gemeinden. Eingangs war von Heinz die Rede, dem 53-jährigen Diplomingenieur. Seine Entlassung wurde ihm wenige Tage vor dem 25-jährigen Dienstjubiläum mitgeteilt. Es war ein Schock, der ihn zunächst völlig lähmte, und dann eine unbeschreibliche Wut auslöste. In einer Gruppe von Christen konnte er offen darüber sprechen. Es half ihm, dass andere mit ihm gebetet haben. Allmählich fasste er wieder Mut und begann, sich zu bewerben. Als er eine Absage nach der anderen bekam, war er oft am Rand der Verzweiflung. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe habe ihn während dieser Zeit „getragen“, wie er später sagte. Mit großer Zähigkeit besuchte er Fortbildungsseminare, um sein fachliches Wissen auf dem Laufenden zu halten. Dass er während der einjährigen Arbeitssuche nicht aufgeben hat und nicht bei jedem neuen Vorstellungsgespräch einen völlig unsicheren Eindruck machte, führt er auf die Tatsache zurück, dass er immer die Solidarität anderer Christen gespürt hat. Die Möglichkeiten einer Gemeinde gehen über eine solche persönliche Begleitung hinaus.

Auch hier ein Beispiel:

In einer Kleinstadt im Einzugsgebiet eines westdeutschen Ballungsgebiets haben sieben Mitglieder einer christlichen Gemeinde eine „Beschäftigungsgesellschaft“ gegründet. Ihr Ziel ist es, schwer vermittel-baren Langzeit-Arbeitslosen eine sinnvolle Beschäftigung zu bieten, den menschlichen Kontakt mit ihnen zu pflegen und ihnen eine ganzheitliche Lebensperspektive zu geben. Mit dem zuständigen Arbeitsamt trafen sie eine Abmachung, wonach sie etwa 30 „Ein-Euro-Jobs“ anboten und für deren Betreuung einen gewissen Zuschuss erhielten. Die vom Arbeitsamt zugewiesenen Personen sind beispielsweise tätig bei der Hausaufgaben-betreuung von Kindern, bei der Reinigung abgelegener Straßen und Wege (in die kein Reinigungs-fahrzeug kommt) oder bei der Pflege einer Park-anlage. Jeden Tag findet ein gemeinsames Mittagessen statt, das für eine geringe Kostenbeteiligung (€ 0,50) angeboten wird. In regelmäßigen Abständen werden Seminare durchgeführt, in denen es beispielsweise um die Stärkung der Konfliktfähigkeit geht oder um das Menschenbild, das uns eine leistungsorientierte Gesellschaft und das uns die Bibel vermittelt. Die Initiatoren dieses Projektes haben gelernt, dass für Langzeit-Arbeitslose nicht nur das Problem der Beschäftigungslosigkeit eine Rolle spielt, sondern auch das einer geringen Selbstachtung und einer ungeklärten Sinnfrage. Sie bieten deshalb nicht nur Beschäftigungsmöglichkeiten, sondern auch Anregungen zur Stärkung des Selbstwertes und zur Beantwortung der Frage nach dem Lebenssinn.

Fazit:

Christliche Gemeinden können zur Wahrhaftigkeit motivieren, zur Selbstständigkeit ermutigen, der Erwerbsarbeit einen vernünftigen Stellenwert im persönlichen Leben geben und Arbeitslose davor bewahren, ihre Selbstachtung zu verlieren. Sie können zur Solidarität von Erwerbstätigen mit fester Anstellung, „prekär“ Beschäftigten und Arbeitslosen beitragen. Denn die Gemeinschaft des Glaubens ist tiefer begründet als die Zugehörigkeit zur Erwerbsgesellschaft.

Quelle: EINS 3/2009 ead

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Thema: Christ und Politik

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