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21. Hingabe – ein Fremdwort

Donnerstag, 22. Oktober 2009 | Autor:

Gefährliche Strudel ruhiger Zeiten

Europa hat sich von den Religionskriegen und Fehden, die hier viele Jahrhunderte lang tobten, erholt. Wie lange diese Zeit der Ruhe währen wird, weiß niemand, und doch dauert sie, verglichen mit dem Lebensalter eines Menschen, schon recht lang. Die Zeiten grausamer Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger gehören der Geschichte an, zumindest im überwiegenden Teil der Alten Welt. Das in Einzelstaaten zerfallene ehemalige „Reich des Bösen“ öffnete die Türen der zugenagelten Kirchen. Relativer Friede und Freiheit kehrten in die Christengemeinden ein, und damit auch die Stabilität, das Gefühl der vollkommenen Ruhe, die Gelassenheit, die Selbstgefälligkeit, die Zufriedenheit und der Stillstand. Sogar in Ländern, in denen die religiöse Toleranz noch recht jung ist, ist gewisse Laschheit und Apathie zu spüren: gewohnter Freundeskreis, gewohnter Gottesdienstablauf (nicht unbedingt ruhig und bedächtig, vielleicht sogar mitreißend und emotional, und doch gewohnt konventionell), verträumte Schläfrigkeit, eine Art Idylle im Geist des viktorianischen Englands.

Sicher, das Leben am Anfang des 21. Jahrhunderts ist turbulent, schwierig und stressig.

Die Gesellschaft lebt dynamisch:

mit Krisen und Krisenbekämpfung, mit politischen Leidenschaften und lokalen Konflikten, mit Gas- und Ölkriegen und endlosen Gipfeltreffen, mit Arbeitslosig-keit und Hungersnöten, mit Verfolgung von Saddam Hussein und Osama bin Laden, mit Terroranschlägen und Flüchtlingslagern.

Doch die meisten von denen, die diese Zeilen lesen, kennen das oben Erwähnte lediglich aus den Schlagzeilen in Zeitungen und Fernsehberichten. Der Arbeits-woche folgt der gewohnte sonntägliche Kirchgang. Dem gewohnten Gottesdienst folgt der Abend des Ruhetages. Dem gewohnten Ruhetag folgt die Arbeitswoche. Das ist großartig, das ist wunderbar, das ist Segen.

Doch gerade bei diesem Rhythmus fällt es am schwersten, Christus hingegeben zu sein. Es ist schwer, bei den täglichen Pflichten das zu sehen, „was droben ist“, das höchste Ziel der Lebensreise im Auge zu behalten und ein „königliches Priestertum“ zu bleiben.

Die Routine ist ein schreckliches Gefängnis, denn man versinkt schnell in der sumpfigen Stille der Tiefe. Hier fällt mir die berühmte Teeparty aus dem Märchen des britischen Schriftstellers Lewis Carroll „Alice im Wunderland“ ein. Der Uhrzeiger zeigt dort ständig auf fünf Uhr. Die Fünf-Uhr-Tee-Tradition ist zum Inbegriff und zur Visitenkarte des konservativen Königreichs geworden. Hier aber erreicht das unveränderliche Ritual seine Über-Beständigkeit, die ewige Starrheit. Zeitlose Ruhe: Landhaus, grüner Rasen, ein ruhiger Spätnachmittag, eine nette Gesellschaft. Ein erstarrtes Bild.

„So rückt ihr also ständig weiter im Kreis?“ fragt Alice. „Ja“, antwortet der Hutmacher. „Wir trinken ein bisschen und rücken weiter. Trinken und rücken weiter“. „Und was passiert, wenn es keine sauberen Tassen mehr gibt?“ wagt Alice zu fragen. „Ein sehr interessantes Gespräch“, gähnt der Märzhase. „Lasst uns lieber über etwas anderes reden…“ Der stehen gebliebene Uhrzeiger war eine Strafe für das Verbrechen gegen die Zeit. Viele von uns gehen ebenfalls wie Carrolls Figuren verbrecherisch mit der Zeit um: Sie vertreiben sich die Zeit, vergeuden sie, schlagen sie tot…

Das moderne Lebensbild erinnert manchmal an dieses verrückte Teetrinken: Man muss nur rechtzeitig einen Platz weiterrücken, um wieder vor einer sauberen Tasse zu sitzen. Und man darf die folgenschwere Frage nicht aufkommen lassen: „Was passiert, wenn die Tassen ausgehen?“ Was passiert, wenn die dunklen Wasser des Stillstands in Bewegung geraten? Was passiert, wenn nach dem lauwarmen Wetter eine Naturkatastrophe kommt?
Dabei geht es nicht um das weltumfassende Harmageddon, nicht um die globalen weltweiten Erschütterungen, sondern um den persönlichen Weg eines jeden Christen und Nichtchristen. Die Willenlosigkeit und Untätigkeit im Reich Gottes ist ein Verbrechen nicht gegen die Zeit, sondern gegen die Ewigkeit.
„So seht nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise, und kauft die Zeit aus; denn es ist böse Zeit.“ (Eph 5,15-16).
Die böse Zeit verführt, sie verspricht die Ewigkeit – die Unendlichkeit auf der Erde –, lockt mit Gemächlichkeit und Ruhe, um dann im Galopp dahinzustürmen wie ein durchgegangenes Pferd und den verdutzten Sterblichen vor dem Angesicht des Schöpfers abzuwerfen. Und dabei sieht man zu, wie unerfüllte Pläne, nicht durchgeführte Projekte, liegen gelassene Aufgaben, ungenutzte Chancen, verworfene Hingabe und gute Vorsätze zu Staub zerfallen.

Vorwurfsvoll erscheinen die Geister der nicht besuchten Kranken, der verlassenen Gefangenen, der Heiden, die das Evangelium nicht gehört haben, der Witwen und Waisen.

Das sorglose Schwimmen mit dem Strom höhlt die Seele aus, verzerrt die Prioritäten, verdreht die Begriffe und schlägt nicht nur die Zeit sondern auch das Leben im Geist tot.

Wir sind nun Manager und nicht mehr Hirten, Psychologen und nicht Seel-sorger, Theologen und nicht Verkündiger. Es geht hier nicht um Begriffe, sie können ruhig modern und schön klingen. Es geht um den veränderten Charakter der Beziehungen, Ziele und Perspektiven.

Unsere Untätigkeit, die allgemeine Willenlosigkeit, die um sich greifende völlige Gleichgültigkeit erklären wir mit sozialwirtschaftlichen Problemen und nicht mit Sündhaftigkeit.
Die Gemeinde ist zu einer Arbeitsstelle geworden, wo so gut wie nichts mehr unentgeltlich gemacht wird. Vom Dienst mit voller Hingabe sind nichts als Worte geblieben. Der Kommerzgeist floriert: Die Gemeinde vermietet die Räume, die einst mit vereinten Kräften gebaut wurden; die Gespräche unter religiösen Führungspersönlich-keiten erinnern manchmal allzu sehr an ein Gespräch unter mittelständischen Unternehmern; der Dienst in der Gemeinde wird vom Gesichtspunkt des Gehalts, der materiellen Möglichkeiten und Beziehungen, der Macht und Popularität aus betrachtet.

Natürlich ist es wichtig, die Familie zu unterhalten und für Angehörige zu sorgen. Natürlich haben der Pastor, der Dirigent oder der Prediger ein Recht auf Unterhalt. Natürlich brauchen Gemeinden zeitgemäße und zeitgerechte Veränderungen. Doch sind neben solchen sinnvollen Grundsätzen auch viele andere entstanden, die viele Sünden legitimieren. Eben von diesen anderen gibt es inzwischen zu viele. Zu viele grundsätzlich untragbare Kompromisse. Zu viele Scheidungen und Zweit – oder Drittehen, die von der Kirche genehmigt und (etwas verschämt) gesegnet werden.
Zu viele Menschen, die ohne Reue in Sünden verharren und dabei zum Dienst herangezogen werden. Es geht hier nicht um Kopfbedeckung oder Hosen. Es geht um Ehebruch, Gewalt in der Familie, maßlose Habgier, okkulte Bindungen, Streitigkeiten, Beleidigungen, schmutzige Reden. Das ist keine Beschreibung aus dem Galaterbrief, nein, das ist die Beschreibung des Alltags derer, die sich Christen nennen.

Der Kult blüht, es ist aber nicht der Jesuskult. Es ist der Kult von teuren Autos, teuren Anzügen, erfolgreiche Karrieren, reichen Häusern, Urlaub an Vorzugsplätzen dieser Welt. Dies wird zum Ziel, zum Gipfel des irdischen Lebens, während Christus nur eine Stufe oder eine Rolltreppe zu diesem Gipfel ist. Nicht alle Gemeinden sind so, Gott sei Dank. Elia war einsam im auserwählten Volk. Manchmal spüren auch die hingegebenen Christen unserer Zeit diese ungeteilte Last des Eifers für Gott, sie fühlen sich wie Waisen und Stiefkinder in der eigenen Gemeinde, unverstanden von den Geschwistern.

Während die vorige Christengeneration sagte: „Wie schwer ist es doch, durch die Dornen der Welt zu gehen!“, müsste die heutige Generation ausrufen: „Wie schwer ist es, durch die Rosen der Gemeinde zu gehen!“ Und doch gibt es in jeder historischen Situation Menschen, die zu den Siebentausend gehören, welche ihre Knie nicht gebeugt haben: weder vor dem goldenen Kalb, noch vor Isebels Ascherabild, oder dem goldenen Bild Nebukadnezars, oder den Parteibossen, oder vor dem gemütlichen, erstarrten Bild eines komfortablen Lebens.

Es gibt sie immer, diese unbeugsamen Siebentausend. In schweren Umbruchs-zeiten kommen herausragende, mutige Helden zu Tage. Wenn die Welt in schwarz-weiß, in In – und Outsider, in Feinde und Gefährten aufgeteilt ist, wenn jede Minute des Lebens völlige Hingabe, Mut und Anstrengung fordert, dann fällt es einem leichter, sich für einen Standpunkt zu entscheiden und Regeln und Normen festzulegen.

Im Buch von Wassilij Grossmann „Leben und Schicksal“ geht es u.a. um einen Atomphysiker. Erlauben Sie mir, kurz eine Episode daraus etwas frei wiederzugeben. Nach dem Kriegsende kehrt dieser Physiker vom Exil nach Moskau zurück. Als Jude gerät er in die nächste antisemitische Welle. Doch hat er Mut genug, der Obrigkeit zu widerstehen und zu den Grundsätzen – nicht verraten, nicht kriechen, sich nicht einschmeicheln – zu stehen. Er hat Angst, aus der Wohnung zu gehen und zuckt bei jedem Geräusch zusammen. Von Tag zu Tag erwartet er, dass man ihn verhaftet. Plötzlich klingelt das Telefon. Stalin ist am Apparat. Der Führer des Weltproletariats erkundigt sich, wie es dem sowjetischen Wissenschaftler gehe, ob er irgendwelche Wünsche oder Bitten habe. Es ist nicht schwer zu erraten, wie sich das Leben der Hauptfigur nach diesem Gespräch ändert. Einige Zeit später wird er gebeten, einen „zornigen Brief“ zu unterschreiben, in dem „Spione und Saboteure“ verurteilt werden. Unter diesen „Spionen“ befinden sich prominente Wissenschaftler, Freunde und Kollegen. Dabei wird ihm gesagt: „Genosse Stalin würde sich sehr freuen. Er zählt sehr auf Sie und er verfolgt aufmerksam Ihre Fortschritte, denn er glaubt an Sie.“ Und so denkt unser Wissenschaftler: „Wie ist es doch viel leichter, der Obrigkeit zu widerstehen, wenn sie ihre Zähne fletscht, und wie viel schwerer ist es, sich dagegen zu stellen, wenn sie dir freundlich auf die Schulter klopft und vertrauensvoll in die Augen schaut.“

Es ist schwer, der Sünde zu widerstehen, wenn sie schön sanft und freundlich daherkommt, behaglich und einhüllend. Wir müssen Gott um Hilfe bitten, diesen Sog der warmen Strudel zu überwinden, bevor es zu spät ist. Es gibt sie, die Siebentausend, die immer über ihr Herz wachen und standhaft die grundsätz-lichen Positionen Gottes festhalten. So sagt es die Bibel. O Herr, schenke uns, dass wir ihnen auf unserem Lebensweg begegnen. Herr, lass uns selbst zu ihnen gehören.

Nadeschda Orlowa, Missionarin und Geschäftsführerin von LICHT IM OSTEN in Kaliningrad, teilt uns ihre eigene, aufrüttelnd kritische Sicht zum Thema Hingabe mit.

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Thema: Christliche Seite

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Ein Kommentar

  1. […] für Tag und Jahr für Jahr sich für andere einsetzen mit Ihrer Zeit, Kraft, Gesundheit und Geld, als Helden bezeichnet? Die werden nicht mit mehreren Millionen im Jahr fürstlich […]

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