490. Nachdenkliches für Manager – Toleranzbreite Null 5-88
Dienstag, 20. Oktober 2015 | Autor: intern
Lieber Blog Besucher,
die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.
Toleranzbreite Null
Ich starre auf die Aktennotiz, die mir der Abteilungsleiter Schröder geschickt hat. Eine Unterschlagung war aufgedeckt worden, Iächerliche 1260 Mark, und in zwei Minuten würde dieser Unglückliche in meinem Büro erscheinen. Entlassung, da gibt es bei uns eherne Prinzipien, bei Geld waren keine Kompromisse möglich. Kein leichtes Gespräch.
Dann sitzt er mir gegenüber, blass und gefasst. Er weiß, was ihm bevorsteht, denn er kennt das Unternehmen und seine Grundsätze genau so gut wie ich.
Ich rede von Ehrlichkeit, vom notwendigen absoluten Vertrauen, das nun zerbrochen sei, und von den unumgänglichen Konsequenzen und auch davon, dass wir die ganze Sache so handhaben würden, dass ihm kein Schaden an seinem Ruf entstünde; aber er hört mir überhaupt nicht richtig zu. Es liegt ihm daran, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Wir geben uns die Hand, und als er geht, sagt er kein Wort.
Ich fühle mich traurig und leer.
Hätte er wenigstens versucht sich zu verantworten, die Schuld auf andere abzuwälzen, von einer momentanen Notlage geredet, mich meinetwegen belogen. Es hätte zwar nichts an der Tatsache geändert, aber ich säße jetzt mit anderen Gefühlen hier, mit einer inneren Rechtfertigung, er hätte es ja nicht anders verdient. Aber so?
Es wird langsam dunkel in meinem Büro. Ich mache die Schreibtischlampe an und starre in ihren Lichtkegel. Da hatte einer gegen das Gebot: „Du sollst nicht stehlen“ verstoßen. Klare
Sache. Und ich ?
Wie oft hatte ich Informationen zurückgehalten, die einem anderen hätten nutzen können, aber es ging um meinen Informationsvorsprung. War das nicht auch Unterschlagung ?
Wie oft stehle ich anderen die Zeit mit meinen Angelegenheiten und betone immer wieder: Zeit ist Geld. War das nicht auch eine Art Diebstahl?
Ich habe mich für Erfolge ehren lassen, an denen andere mindestens im gleichen Maß beteiligt waren, und habe noch nicht einmal Dankeschön zu ihnen gesagt.
Neulich hat mir ein Kollege anerkennend auf die Schulter geklopft und gesagt, ich arbeite für drei. So unrecht hat er nicht, aber ist verweigertes Delegieren nicht auch eine Art des Stehlens? Wenn immer weniger Leute immer mehr arbeiten und zugleich immer mehr Menschen ohne berufliche Chance oder sogar ganz ohne Arbeit sind?
Fragen, auf die ich die Antwort ahne und sie deshalb nicht zu Ende denke.
Da hatte ich von Konsequenzen gesprochen bezüglich „Du sollst nicht stehlen“.
Richtig, das ist die eine Sache. Und die Grenzziehung in meinem eigenen Leben, die Toleranzbreite, innerhalb derer man sich ein gutes Gewissen zu bewahren glaubt, das ist die andere Sache.
Ich schließe meinen Schreibtisch ab und gehe. Im dritten Stock hält der Fahrstuhl wieder an. Als die Tür aufgeht, stehen wir uns plötzlich noch einmal gegenüber, der Mann, den ich vorhin entlassen habe und ich. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter und sage ihm, er möge mich privat anrufen, da wäre vielleicht was, und zum ersten Mal Iächeln wir beide.
Karlheinz Binder