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476. Nachdenkliches für Manager – Stallgeruch 2-97

Montag, 19. Oktober 2015 | Autor:

Lieber Blog Besucher,

die tiefsinnigen Gedanken von Karlheinz Binder haben mich viele Jahre erfreut und immer wieder zum Nachdenken angeregt. Genießen Sie diese Worte und nehmen Sie davon etwas in Ihrem Alltag mit.

 

 

Stallgeruch

„Du Karlheinz“, sagte mein Freund Johannes aus Mannheim am Telefon, „am Sonnabend will ich ins Simonswälder Tal. Wie siehst Du die winterliche Lage oben im Schwarzwald, denn Du bist ja näher dran?“
„Du bekommst meine zuverlässige Prognose einschließlich Schneebericht, aber unter einer Bedingung“, antwortete ich ihm, nämlich daß Du wenigstens zu einer Tasse Kaffee kurz bei uns vorbeikommst.
„Von Herzen“, rief er, „bis dann und Tschüs“.

Es wurde ein fröhliches Wiedersehen und als Johannes sichtlich mit sich kämpfend gerade das dritte Tortendreieck fixierte, hatte er eine Idee: „Wie wäre es, wenn wir zwei Männer zusammen in den Schwarzwald rauffahren. Es könnte für Dich genauso interessant sein, wie für mich. Du weißt, daß wir zuhause eine Bauernuhr haben. Keine, die museumsreif und überaus wertvoll wäre, aber eine, die wir lieben. Und nun hat das Zifferblatt einen Riß bekommen, der sich kaum mehr reparieren läßt, aber dort oben gibt es einen Bauern, der macht in den Wintermonaten ganz in der Tradition seiner Vorväter auf altem Holz Zifferblätter, praktisch original und mit dem gleichen Rosen-Motiv wie eh und je. Nicht gerade billig, wie man mir sagte, aber dafür ist jedes Stück ein absolutes Unikat. Das will ich mir ansehen. Vielleicht kann meiner armen Uhr geholfen werden“.

Ich zog kurz entschlossen meinen Mantel an, gab meiner Frau einen Reise-Abschiedskuß und wir brausten mit seinem allradgetriebenen Geländewagen los.

Rund zweihundert Meter vor dem bewußten Gehöft mußten wir das Auto stehen lassen. Der Schnee wurde zu tief und der Verlauf des Weges war nur durch Fußspuren markiert mit dem Risiko, daß die Hofbewohner irgendwo geradlinig abgekürzt hatten und wir im unsichtbaren Graben landeten.

In der Höhe von über achthundert Metern und am Nordhang war es empfindlich kalt und als nach zweimaligem Rufen der Bauer aus dem Fenster schaute und uns das Zeichen gab, er käme, froren wir zwei spontan etwas weniger.

Er führte uns am Wohnhaus vorbei zu einem Seiteneingang.
Als wir eintraten, standen wir im Kuhstall. Die Wärme der Tiere schlug uns entgegen und zugleich der durchdringende, fast den Atem nehmende Geruch nach Mist, Kraftfutter und Ammoniak.
Es ging eine kleine Treppe empor, durch eine zweite Tür, und plötzlich standen wir im Wohnraum, zurückversetzt in die fast vergessenen Zeiten archaischer, familienumschließender, schutzgebender Wohnkultur des Schwarzwaldes. Halb in der Ecke ein großer Kachelofen mit Bank und schnurrender Katze. Darüber trocknende Wäsche. Am großen Tisch die Kinder, beschäftigt mit Schularbeiten. Auf dem Küchenherd dampfte aus einem Topf Suppe, aus dem anderen Knochenleim. Es roch nach Farbe, Klebstoff, Waschpulver, Gewürzen, Kohl, Bohnerwachs und noch immer, wenn auch reduziert, den methanhaltigen Abgasen der muhenden Wiederkäuer von nebenan.
Die Bäuerin kam auf uns zu, bot uns ein hochprozentiges Kirschwässerli an und wir stellten fest, daß die versammelte Familie aus netten, freundlichen, frohen Menschen bestand.
Johannes wurde mit dem Bauer über Größe, Ausführung sowie Preis des Zifferblattes einig und nach fast herzlichem Abschied waren wir wieder im Kuhstall. Dann draußen in der Dämmerung.

Johannes sah mich von der Seite an und sagte: „Du, geht es Dir auch so? Ich finde, hier draußen riecht es irgendwie komisch“. Unter Lachen pflichtete ich ihm bei. Wir hatten uns in diesen rund dreißig Minuten an die abenteuerliche Komposition von Gerüchen gewöhnt, an die Düfte im Wohnzimmer und an den Gestank im Kuhstall. Die Normalität zwischen drinnen und draußen hatte sich verwischt.

Als wir mit dem Auto in die Winternacht fuhren, kam mir immer wieder das Wort „Stallgeruch“ in den Sinn. Ich hörte es oft von Unternehmern und Managern, wenn sie über ihre Mitarbeiter sprachen. Stallgeruch sollten sie haben. Jeder zu den anderen passen. Akklimatisieren muß sich ein Neuer, die Gepflogenheiten, Denk-und Verhaltensweisen der bereits Vorhandenen übernehmen, damit harmonische Gemeinschaftlichkeit entsteht.
Das klingt gut und es ist auch wichtig und richtig für Geborgenheitsgefühle, Solidarität, für das Vertrautsein mit Umgebung, Menschen und Verhältnissen, aber, überlegte ich, trug das nicht wie alles, was uns so wohltut, zugleich auch eine große Gefahr in sich?
Das Risiko, über dem Innen das Außen nicht mehr objektiv wahrzunehmen? Die gegebenen Zustände als die Normalität zu empfinden?
Insidertum nennt man das. Diese heimelige, nette, herzerwärmende und weltentfremdende Atmosphäre, in der entstehender Mief von den Beteiligten leider allzuoft überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird.

Es gibt Politiker, die haben keine Nase mehr für ihre Wähler. Gewerkschaftsfunktionäre, die nicht mehr die gleiche Luft atmen wie ihre Beitragszahler. Selbstsichere Firmenleitungen, die mit ihren einsamen, manchmal abgehobenen Top-Down-Beschlüssen ihren Mitarbeitern schon längst stinken. Ehemals dynamische Bewegungen, die so lange in geschlossener Einstimmigkeit Höhenklima erzeugt haben, daß sie inzwischen zu Organisationen degeneriert sind. Früher richtungsweisende Persönlichkeiten, die nur noch Standpunkte austauschen und heiße Luft umwälzen. Kreative Querdenker, die entweder um des lieben Friedens willen beidrehen, oder frustriert das Unternehmen wechseln. Zur Nachdenklichkeit fähige Menschen, die in der überaus dünnen, dürftigen Luft der sogenannten Öffentlichen Meinung inzwischen so wesen-, profil- und glaubenslos geworden sind, daß sie vor lauter Opportunismus kein Vorbild mehr sein können.
Und sie alle pflegen innerhalb ihresgleichen, hinter den Gartenzäunen und Mauern, einen vorbildlichen Stallgeruch.

Kann eine Gesellschaft so ihre Zukunft meistern?
Kann einer so Persönlichkeit sein und bleiben?
Kann einer von uns so ein vor Christus gültiges Leben führen?

Da griff sich Gott den Abraham und sagte ihm, er habe Großes mit ihm vor, Neues, Wegweisendes. Aber es gab eine Voraussetzung: Dieser Abraham sollte seine Heimat, seine Sippe, seine Freundschaften, alles mit dem vertrauten Stallgeruch, hinter sich lassen. Die heimelige Wärme der Gewöhnungen tauschen gegen die sauerstoffhaltige Frischluft des Wagnisses, die scheinbare Sicherheit des Vorhandenen gegen die Bereitschaft, sein Vertrauen in Gott und seine Zusagen zu investieren. Und damit wurde Abraham vom Insider zum Outsider, zum heute noch ehrfurchtgebietenden Erzvater, weil er den Schritt wagte und nicht in und bei dem blieb, was ihm fünfundsiebzig Jahre lang Normalität, Denk- und Handlungsgewohnheit war.

Wie sagt man im Norden an der Waterkant?: „Junge, wenn Du ein Ziel erreichen willst, dann mußt Du die Nase in den Wind drehen“.
Allerdings: Dabei geht der lieben Stallgeruch verloren.
Hört sich an wie eine Entscheidungs-Alternative, oder?

Karlheinz Binder

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Thema: Nachgedacht

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